Verdi-Chef Frank Bsirske „Ich habe nie einen Führerschein gemacht“

Düsseldorf · Gewerkschaftschef Frank Bsirske spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Rente, die Pflege, den Kampf bei Amazon und privaten Luxus.

 Verdi-Chef Frank Bsirske (66) beim Redaktionsbesuch.

Verdi-Chef Frank Bsirske (66) beim Redaktionsbesuch.

Foto: Bauch, Jana (jaba)

Gebräunt und gut gelaunt erscheint Frank Bsirske zum Redaktionsbesuch in der Zentralredaktion in Düsseldorf. Gerade erst kommt der dienstälteste Gewerkschaftschef der Republik aus dem Griechenland-Urlaub zurück. Ein Gespräch mit dem Verdi-Chef über Politik und Digitalisierung.

Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der großen Koalition?

Frank Bsirske Die Koalition hat nach dem ersten Holpern nun beachtliche Akzente gesetzt: mit dem Sozialen Arbeitsmarkt, dem Gute-Kita-Gesetz, der Pflege und einem Einwanderungsgesetz. Das muss jetzt alles diskutiert und beschlossen werden. Warten wir ab, was dabei rauskommt. Gleichzeitig verliert die Koalition Zeit bei dringenden Investitionsbedarfen. Wir erleben einen Investitionsstau sondergleichen. Den sehen Sie bei den Krankenhäusern, den Straßen und Schienen, in den Kitas und Schulen. Über die 1,6 Millionen fehlenden sozialen Wohnungen haben wir da noch gar nicht gesprochen – zusammen mit der Rente der derzeit wohl größte soziale Sprengstoff der Republik. Deshalb ist es absolut richtig, dass die SPD das Rentenniveau über das im Koalitionsvertrag genannte Jahr 2025 hinaus stabilisieren will. Diese Diskussion muss geführt werden. Und es geht kein Weg daran vorbei, die Renten in Deutschland armutsfest zu machen.

Aber woher soll das Geld für die Investitionen denn kommen?

Bsirske Abgesehen davon, dass wir über eine ordentliche Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften reden sollten: Sie können doch keinem erklären, dass die Regierung in einer Phase der Negativzinsen immer noch an der schwarzen Null klebt. Der Staat verdient doch noch daran, wenn er sich Geld leiht, weil er anschließend weniger zurückzahlen muss, als er jetzt bekommt. Wann, wenn nicht jetzt, sollte er investieren?

Das setzt voraus, dass die Konjunktur weiter brummt. Dabei gibt es wirtschaftliche Krisenherde – etwa den Handelskonflikt mit den USA.

Bsirske Der ist ein Ärgernis, aber auch nicht für alles verantwortlich. Investitionen in unsere eigene Infrastruktur müssen wir schon selber angehen. Andersrum wird ein Schuh draus: Wieso setzt denn der US-Präsident so stark auf Abschottung? Weil Exportländer wie Deutschland zwar Produkte in alle Welt verschiffen, aber nicht annähernd so viel importieren und damit die Schuldenlast anderer Länder in die Höhe treiben. Selbst Institutionen wie der Währungsfonds IWF kritisieren Deutschland deswegen. Um dieses Problem anzugehen, benötigen wir neben höheren Lohnabschlüssen auch höhere Staatsausgaben.

In einem Feld investiert der Staat gerade beträchtlich: in der Pflege. Überrascht, dass ausgerechnet der als neoliberal geltende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zum sozialen Wohltäter wird?

Bsirske Ich erkenne an, dass er in seine Rolle als Gesundheitsminister am Ende doch rein gefunden hat und nun Ehrgeiz entwickelt. Die Regierung stand aber ja auch unter Zugzwang. Die 13.000 zusätzlichen Stellen sind ein Anfang. Auch den Plan, dass kostensteigernde Tarifwirkungen rückwirkend ab 2018 zu 100 Prozent refinanziert werden, begrüße ich ausdrücklich. Und als er dann noch sagte, dass eine Pflegekraft 3000 Euro im Monat verdienen sollte, hatte er ja letztlich eins zu eins eine Verdi-Forderung aufgegriffen. So kann er gerne weitermachen.

Wo sollen denn die Pflegekräfte herkommen?

Bsirske Wir müssen die Entlohnung deutlich verbessern, die Arbeitsbedingungen und die Ausbildung. Der Beruf muss für Einsteiger und Quereinsteiger, aber auch für bereits in der Pflege Tätige attraktiver werden. Wir haben im Bereich der klinischen Pflege eine Teilzeitquote von 50 Prozent. Viele haben aufgrund der Überforderung freiwillig Stunden reduziert und Lohneinbußen in Kauf genommen, um nicht auszubrennen. Wenn wir es schaffen, dass sie wieder länger arbeiten, weil die Rahmenbedingungen verbessert wurden, wäre ein Anfang gemacht.

Wäre eine Rekrutierung im Ausland für Sie akzeptabel?

Bsirske Natürlich macht es Sinn, solange wir den Fachkräftemangel nicht behoben haben, auch im Ausland zu rekrutieren. Die nun vorgelegten Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz sind eine Chance, auch hierüber qualifiziertes Personal in allen Branchen anzuziehen. Im Übrigen begrüße ich die Forderung, dass auch Asylbewerber einen Spurwechsel vollziehen dürfen. Menschen, die die Sprache können und die einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben, abzuschieben und gleichzeitig andere als Einwanderer gewinnen zu wollen, macht keinen Sinn.

Welche Rolle spielt Verdi noch in ein paar Jahren, wenn jeder Job digitalisiert wird?

Bsirske Bei Amazon hatten wir den Fall, dass ein Lager-Mitarbeiter abgemahnt worden ist, weil ein Scanner registriert hatte, dass er innerhalb von fünf Minuten zweimal inaktiv war – also nicht gelaufen ist. Wir haben das vor Gericht kassieren lassen, aber es zeigt, wie Daten heute als Herrschaftsinstrument missbraucht werden. Dem müssen wir frühzeitig einen Riegel vorschieben.

Sie werden die Transparenz nicht bekämpfen können.

Bsirske Nein. Aber wo wir Dinge regeln können, werden wir das tun. Wo es nicht geht, müssen wir ein Bewusstsein bei den Beschäftigten schaffen. Stichwort: Dauerer­reichbarkeit. Es kann doch nicht sein, dass die Menschen permanent mit einem schlechten Gewissen durch die Gegend rennen, weil sie ihre E-Mails nicht checken. Außerdem müssen wir Regelungen für die Mensch-Maschine-Interaktion finden. Es gibt schon heute Fälle, bei denen der Computer den Menschen diktiert, wann sie zu arbeiten haben – beispielsweise bei der minutengenauen Terminvergabe in Behörden. Da gilt es frühzeitig zu verhindern, dass der Mensch die Hoheit verliert.

Vor welchen weiteren digitalen Herausforderungen steht Verdi?

Bsirske Uns beschäftigt das Thema Crowd- und Clickworker. Der Chef der größten Plattform hat jüngst gesagt, vor dem Internetzeitalter sei es ja nicht möglich gewesen, jemanden für eine Mini-Aufgabe zu einem Mini-Lohn anzuheuern und ihn nach zehn Minuten wieder zu feuern. Jetzt sei es möglich geworden! Das ist eine katastrophale Einstellung, wenn wir nur mal an die soziale Absicherung dieser Menschen denken.

Im Zusammenhang mit Digitalisierung drohen auch zahlreiche Jobs einfach zu verschwinden.

Bsirske Ja, das ist eine enorme Herausforderung. Das IAB, die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, sagt per Saldo bis 2025 den Verlust von 30.000 Arbeitsplätzen voraus. 1,5 Millionen Arbeitsplätze sollen aktuellen Forschungen zur Folge überwiegend im Handel und der Logistik wegbrechen, zugleich aber annähernd so viele in den Bereichen Erziehung, Pflege und Medien entstehen. Nur die Qualifikationsprofile passen leider nicht untereinander. Wir müssen deshalb sicherstellen, dass die Menschen ständig weitergebildet werden, um in neuen Branchen Fuß fassen zu können. Und wir müssen diese dramatischen Veränderungsprozesse sozial abfedern.

Wie soll das gelingen?

Bsirske Manager in der Versicherungswirtschaft sind auf uns zugekommen und haben gesagt: „Wir rechnen damit, dass ein Drittel aller Arbeitsplätze wegfallen.“ Daraufhin haben wir dort einen Tarifvertrag gemacht. In Firmen, in denen sich Arbeitsplatzabbau abzeichnet, kann die Wochenarbeitszeit um bis zu acht Stunden abgesenkt werden – übrigens bei einem Teillohnausgleich –, damit die Beschäftigten sich in dieser Zeit beruflich weiterbilden.

Sie sind 66. Erleben Sie noch in Amt und Würden den Abschluss eines Tarifvertrags bei Amazon?

Bsirske Es wäre schön, wenn es gelingt. Aber ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen. Wir kommen Schritt für Schritt voran. In mehreren Lägern haben wir inzwischen Organisationsgrade von mehr als 50 Prozent. Und wir sind immer stärker international vernetzt. Das Management sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass es einfacher mit uns wird. Im Gegenteil.

Haben Sie ein Amazon-Konto?

Bsirske Noch nicht. Ich bevorzuge Geschäfte mit Tarifbindung.

Wie steht es um Ihre Nachfolge? Gibt es bald eine Verdi-Chefin?

Bsirske Bis November wird das Präsidium unseres Gewerkschaftsrates einen Vorschlag für die künftige Verdi-Spitze machen. Also für den Vorsitz und die beiden Stellvertreter. Zwei der drei Posten werden mit Frauen besetzt sein.

Gewerkschafter fordern ja immer Transparenz bei Managergehältern. Wie viel verdient ein Verdi-Chef?

Bsirske Knapp 14.000 Euro brutto – bei einer Organisation mit einem Budget von jährlich 469 Millionen Euro, 3000 Mitarbeitern und einem extrem breiten Aufgabenspektrum.

Welchen Luxus gönnen Sie sich denn in Ihrer Freizeit?

Bsirske Wenn ich CDs oder Bücher interessant finde, schlage ich zu.

Das ist alles? Kein Oldtimer in der Garage?

Bsirske Ich habe noch nie in meinem Leben einen Führerschein gemacht.

Sie sind historisch gewachsen Mitglied der Grünen. Fühlen Sie sich denen noch zugehörig?

Bsirske Ja, und das aus Überzeugung. Allerdings fehlt mir angesichts langer Arbeitstage Zeit, um aktive Parteipolitik zu machen.

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