Studie der Sozial- und Wirtschaftsforschung Hartz-IV-Sanktionen bringen nicht mehr Menschen in Arbeit

Berlin · Mit Sanktionen sollen Langzeitarbeitslose zum Arbeiten motiviert werden, so zumindest die Idee. Eine Studie zeigt nun, dass das nicht funktioniert. Viel mehr sorgen Leistungskürzungen für zusätzliche Belastung der Betroffenen. Experten fordern die Abschaffung der Strafzahlungen.

 Ein Passant geht an dem Logo der Agentur für Arbeit vorbei. (Symbolbild)

Ein Passant geht an dem Logo der Agentur für Arbeit vorbei. (Symbolbild)

Foto: dpa/Sebastian Kahnert

Die Sanktionen im Hartz-IV-System tragen einer Studie zufolge nicht dazu bei, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Vielmehr belasteten sie die Langzeitarbeitslosen zusätzlich, heißt es in einer in Berlin vorgestellten Langzeit-Untersuchung über die Auswirkungen von Leistungskürzungen. Die Menschen fühlten sich zusätzlich stigmatisiert statt motiviert, ihre Arbeitssuche zu verstärken. Damit verfehlten die Sanktionen ihr Ziel, lautet das Fazit der vom Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) im Auftrag des Vereins „Sanktionsfrei“ erstellten Studie.

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, und die Gründerin des Vereins „Sanktionsfrei“, Helena Steinhaus, forderten die vollständige Abschaffung von Sanktionen für Langzeitarbeitslose. Sie hätten „in einer modernen Grundsicherung nichts verloren“, sagte Steinhaus. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bezeichnete die Sanktionen für Langzeitarbeitslose als „kontraproduktiv und demotivierend“. Es sei daher dringend nötig, sie abzubauen oder gar „komplett zu entfernen“.

Schneider, Fratzscher und Steinhaus forderten zudem höhere Regelsätze, als von der Bundesregierung angekündigt. Danach sollen sie bei der Einführung des Bürgergelds Anfang 2023 von derzeit 449 Euro auf rund 500 Euro angehoben werden.

Eine Anhebung um 11 Prozent sei „ein schlechter Witz“, sagte Schneider. Sie werde von der Inflation eingeholt. Damit Hartz-IV-Bezieher nicht länger in die Verschuldung getrieben werden, müsse der Regelsatz sofort um 200 Euro steigen. Außerdem müssten in der aktuellen inflationären Situation die Stromkosten komplett erstattet werden, forderte Schneider.

DIW-Präsident Fratzscher sieht in der Einführung des Bürgergelds die Chance zu einer grundlegenden Umgestaltung der Sozialsysteme. „Es kann dazu ein erster Schritt sein, weitere Schritte müssen folgen“, sagte er. Fratzscher sprach von einer „dramatischen sozialen Schieflage“. Mit 449 Euro, aber auch mit den für den Jahreswechsel geplanten rund 500 Euro im Monat kämen die Menschen nicht über die Runden. „Das reicht vorne und hinten nicht“, beklagte Fratzscher.

Die INES-Studie liefert Ergebnisse einer dreijährigen empirischen Studie, für die rund 600 Personen mehrfach befragt wurden, die zwischen 2019 und 2022 dauerhaft oder zeitweilig Hartz-IV-Leistungen bezogen. Ob Langzeitarbeitslose die Kraft finden, ihre Lage zu verbessern, hängt der Untersuchung zufolge davon ab, welche Handlungsspielräume sie für sich sehen und wie sie durch die Jobcenter begleitet werden. Sanktionen verringerten diese Spielräume sowohl finanziell als auch durch zusätzlichen psychischen Druck.

Nach den Plänen der Ampel-Koalition sollen die Hartz-IV-Leistungen von einem Bürgergeld abgelöst werden. Im Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sind bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent vorgesehen. Bis zur Einführung des Bürgergelds sind derzeit die Sanktionen weitgehend ausgesetzt.

Laut der Bundesagentur für Arbeit (BA) lebten im Mai dieses Jahres knapp 4,9 Millionen Menschen von Hartz-IV-Leistungen, davon 3,5 Millionen erwerbsfähige Leistungsbezieher, die bei Verstößen gegen Auflagen der Jobcenter sanktioniert werden können. Unter den 1,4 Millionen nicht erwerbsfähigen Leistungsbeziehern sind vor allem Kinder unter 15 Jahren. Nach Angaben der BA sind in den beiden Corona-Jahren jeweils weniger als 200.000 Sanktionen verhängt worden – das ist nur ein Viertel der jährlichen Zahl vor der Pandemie. Häufigster Grund sind Meldeversäumnisse.

(msk/epd)
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