Tiktok-Phänomen Was ist Quiet Quitting?

Berlin · In vielen Unternehmen gehören Überstunden noch immer zum guten Ton. Geht es nach einem Tiktok-Trend, ist das bald Vergangenheit. Viele junge Menschen fordern mehr Grenzen zum Privaten. Doch kann das in einer Zeit funktionieren, in der Millionen Fachkräfte fehlen?

 Ein Mann sitzt im Homeoffice mit Laptop auf einem Sofa (Symbolfoto).

Ein Mann sitzt im Homeoffice mit Laptop auf einem Sofa (Symbolfoto).

Foto: dpa/Sina Schuldt

Wie entstand das Phänomen „Quiet Quitting“?

Im Sommer hat ein Nutzer auf Tiktok ein 17-sekündiges Video veröffentlicht. Zu Alltagsszenen erklärt er auf Englisch: „Ich habe jüngst den Begriff Quiet Quitting gelernt. Man kündigt nicht seinen Job, aber man verabschiedet sich von der Idee, dessen Anforderungen immer überzuerfüllen. Man erfüllt immer noch seine Pflichten, aber fühlt sich nicht länger an eine Mentalität gebunden, die vorschreibt, Arbeit sei dein Leben.“

Mehrere Millionen Menschen sahen den Clip. Schnell machte der Begriff Karriere im Internet: Hunderttausende diskutierten in Netzwerken wie Twitter, Instagram und Linkedin darüber - besonders die Generation Z und die jüngeren Millennials. Auch große Zeitungen wie die „New York Times“ und das „Wall Street Journal“ griffen das Thema auf.

Was bedeutet „Quiet Quitting“?

Quiet Quitting heißt wörtlich übersetzt stille Kündigung. Das hat allerdings nichts mit der inneren Kündigung zu tun, die vor allem Arbeitspsychologen ein Begriff ist und die weitgehende Verweigerung von Arbeit bedeutet. Viele verstehen den Trend hingegen so, dass es darum geht, Grenzen zu setzen. Das schließt Leistungsfähigkeit nicht aus - aber eben nur im vereinbarten Rahmen. Ohne Sonderaufgaben und Überstunden am Abend und an den Wochenenden. Quiet Quitting wird daher auch oft als Dienst nach Vorschrift bezeichnet.

Was sagen Forscher zu dem Phänomen?

„Wir kommen noch dichter ran, an das, was eigentlich gemeint ist, wenn man sich vorstellt: Das sind Berufsanfänger“, sagt Jugendforscher Klaus Hurrelmann. In den Unternehmen stoßen sie demnach auf eine durch die ältere Generation geprägte Tradition von Arbeitsmoral, Arbeitsrhythmus und Arbeitsstil. „Und das finden die irgendwie nicht überzeugend und gut.“ Hurrelmann geht davon aus, dass das bei vielen jungen Leuten einen Nerv trifft - auch in Deutschland.

Diese Einstellung unterscheidet sich gewaltig von der vieler Älterer. „Hier hieß es noch: Der Beruf geht voran, man muss durchhalten und die Familie notfalls zurückstecken“, sagt der Forscher. Die Jungen hätten aber Angst, rund um die Uhr ausgebeutet zu werden. „Da machen sie lieber rechtzeitig die Schotten dicht, stecken also beim Beruf zurück und investieren in die eigene Lebensqualität.“

Systematisch erforscht ist Quiet Quitting noch nicht. In den USA sind dem Meinungsforschungsinstitut Gallup zufolge aber nur noch rund ein Drittel aller Arbeitskräfte in ihrem Job engagiert. Gut 50 Prozent leisteten Dienst nach Vorschrift. Vor allem bei den Jüngeren unter 35 sei ein Rückgang des Engagements und der Arbeitgeberzufriedenheit zu beobachten. Eine Berufe-Studie des Versicherers HDI ergab, dass die Bindung an die Arbeit in Deutschland vor allem bei Jungen abnimmt: So sagten 58 Prozent der unter 25-Jährigen, dass sie sich ein Leben ohne Beruf nicht vorstellen könnten, 2020 waren es noch 69 Prozent.

Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom IAB hat aber seine Zweifel, ob der Tiktok-Trend mit der Realität auf dem deutschen Arbeitsmarkt viel gemeinsam hat. „Die Wünsche nach der Länge der Arbeitszeit haben sich gar nicht geändert. Also dass die Leute heute irgendwie keine Lust mehr auf Arbeit haben und weniger arbeiten wollen, ist, wenn man es repräsentativ erhebt, nicht ersichtlich“, erklärt er. Auch andere Indikatoren seines Fachs wie die Teilzeitquote und die Zahl der erbrachten Überstunden weisen Weber zufolge aktuell noch nicht auf einen derartigen Trend hin.

Die junge Generation will laut Weber nicht weniger, sondern anders arbeiten: „Die Menschen stellen heute andere und teils auch höhere Ansprüche. Sie möchten etwa individuellere Arbeitszeiten, die sich eher dem eigenen Leben anpassen und nicht umgekehrt.“ Gleiches gelte für den Arbeitsort. Nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie sei mobiles Arbeiten eine Standardforderung, um die kein Arbeitgeber in entsprechenden Jobs mehr herumkomme.

Welche Rolle spielt die Lage auf dem Arbeitsmarkt für „Quiet Quitting“?

Begünstigt wird der Trend in Deutschland von der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Es herrscht annähernd Vollbeschäftigung - das zeigen auch die Arbeitsmarktzahlen für Oktober. Viele Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften. Im zweiten Quartal dieses Jahres gab es nach Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 1,9 Million offene Stellen - so viele wie noch nie. Zugleich verabschieden sich die Baby-Boomer allmählich aus der Arbeitswelt. Bis 2035 könnten einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zufolge noch einmal mehr als drei Millionen Arbeitskräfte fehlen.

Diese Lücke können die nachfolgenden Jahrgänge nicht schließen - ein Ungleichgewicht entsteht. „Das spüren die gut qualifizierten jungen Leute. Und sie merken: Der Markt hat sich gedreht, die Marktmacht steigt, die Arbeitsmarktmacht sozusagen. Die liegt jetzt bei ihnen“, sagt Hurrelmann. Das sei für viele Unternehmen eine Zumutung.

(mba/dpa)
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