Arbeitsmarkt Warum Firmen ältere Arbeitnehmer hofieren sollten

Düsseldorf · Arbeitnehmer in vorgerücktem Alter sind viel flexibler und leistungsfähiger als früher. Trotzdem zeigen ihnen viele Unternehmen die kalte Schulter – und schaden damit sich selbst.

 Ältere Arbeitnehmer werden am Arbeitsmarkt dringend benötigt. Trotzdem tun sich viele Firmen bei Neueinstellungen schwer (Symbolbild).

Ältere Arbeitnehmer werden am Arbeitsmarkt dringend benötigt. Trotzdem tun sich viele Firmen bei Neueinstellungen schwer (Symbolbild).

Foto: dpa, bsc cul lof

Wer mit 55 Jahren arbeitslos wird, hat erst einmal ein Problem. Der Personalexperte Stephan Schale (Name von der Redaktion geändert) aus Stuttgart kann ein Lied davon singen. Jahrzehntelang bekleidete er führende Positionen bei mittelständischen Autozulieferern, einem Großkonzern und einem Softwareunternehmen. Zuletzt war er für 14 Mitarbeiter in einem global aufgestellten Unternehmen für den Aufbau einer weltweiten Human-Resources-Funktion (Personalmanagement) verantwortlich.

Dann kam der Bruch. Schale sah sich im Rahmen dieser Umstrukturierung mit einer Kündigung konfrontiert, gegen die er sich juristisch wehrte und die in einer Aufhebungs- und Abfindungsregelung endete. Mit 55 Jahren wurde er arbeitslos.

Dank seiner Qualifikation als langjähriger Personalfachmann dachte der 55-Jährige, ein neuer Job wäre kein Problem. Doch es begann eine Odyssee mit Bewerbungen, Absagen und merkwürdigen Einstellungsgesprächen. In vier Jahren seit Anfang 2015 zählte Schale nicht weniger als 417 Absagen. Der frühere Manager macht dafür vor allem einen Grund verantwortlich: „Ich bin zu alt.“

An mangelnder Expertise oder zu hohen Gehaltsforderungen könne es nicht liegen. Schale war bereit, auf bis zur Hälfte seines einstigen Managergehalts zu verzichten. Und im Alter von 58 Jahren bestand er sogar im ersten Versuch eine IT-Beraterausbildung des Softwareriesen SAP, bei der normalerweise 90 Prozent durchfallen. „Für mich war es eine Bestätigung, dass ich den intellektuellen Herausforderungen einer digitalen Unternehmensführung gewachsen bin“, meint der Stuttgarter.

Dass auf Seiten von Arbeitgebern oft Vorbehalte gegenüber älteren Bewerbern bestehen, bestätigen auch Personalexperten. Der Partner der Personal- und Unternehmensberatung Kienbaum, Martin von Hören, weiß: „Unternehmen stellen sich oft viele Fragen, etwa ob ein solcher Bewerber noch flexibel genug sei, sich auch durch Jüngere führen lasse und trotz Gehaltsabstrichen noch zufrieden sei.“ Oft gelte gerade eine Führungskraft ab 55 als persönlich so ausgeformt, dass viele Unternehmen Ältere nur dann einstellen, wenn diese wegen ihrer speziellen Fertigkeiten gezielt gesucht würden. Grundsätzlich hält Berater von Hören viel von der Einstellung älterer Fachkräfte. „Zahlreiche Unternehmenskulturen leben von ihrer Diversität. Das gilt nicht nur für Männer und Frauen, Deutschstämmige und Migranten, sondern auch für Alt und Jung.“

Was für Führungskräfte gilt, trifft auch für qualifizierte ältere Fachkräfte zu. Der zweitgrößte deutsche Arbeitskräfte-Vermittler Adecco findet zwar, dass „ältere Arbeitnehmer aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und Expertise für den Arbeitsmarkt unverzichtbar sind“. Gleichzeitig räumt Adecco-Sprecher Philipp Schmitz-Waters ein: „Es ist für sie jedoch oft schwierig, einen Job zu finden.“

Noch krasser fällt der Jugendwahn bei Konzernen wie dem Pharma- und Pflanzenschutzriesen Bayer aus. Nach Auskunft des Personalbereichs wurden in Deutschland 2018 gerade einmal 52 Arbeitnehmer neu eingestellt, die älter als 55 Jahre waren – bei einer Gesamtbelegschaft hierzulande von knapp 32.000. Stattdessen bietet das Leverkusener Unternehmen ihren Mitarbeitern ab 57 Jahren an, mit bis zu 63 Monatsgehältern in den Vorruhestand zu wechseln. So will man Tausende Jobs in Deutschland abbauen.

Die Abneigung der Arbeitgeber, ältere Arbeitnehmer einzustellen, steht im krassen Widerspruch zu politischen und gesellschaftlichen Trends. Weil die Menschen immer älter werden, dringen Sozialpolitiker darauf, die Altersgrenze in der Rentenversicherung zu erhöhen, um die staatliche Altersversorgung finanziell abzusichern. Seit den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder ist die Beschäftigung älterer Jahrgänge sogar deutlich gewachsen. So waren zur Jahresmitte 2017, der letzten verfügbaren Zahl, fast sechs Millionen Menschen im Alter zwischen 55 und 65 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt, fast doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Die Erwerbsquote der 55- bis 60-Jährigen, also der Anteil derer, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, stieg zwischen 2007 und 2017 um acht Prozentpunkte auf fast 83 Prozent. Im Alter zwischen 60 und 65 Jahren sind noch knapp 61 Prozent auf dem Arbeitsmarkt aktiv, vor zehn Jahren waren es nur 36 Prozent. Für viele Unternehmen war bis dahin die Frühverrentung die einfachste Möglichkeit, die Belegschaften zu kappen – oft auf Kosten der Sozialversicherungssysteme.

Den Trend zur höheren Beschäftigung älterer Arbeitnehmer haben auch Vermittlungsunternehmen wie Adecco erkannt. Die Zahl älterer Arbeitnehmer, die der Zeitarbeitskonzern vermitteln konnte, hat sich in den vergangenen zehn Jahren immerhin verdreifacht. Sprecher Schmitz-Waters: „Die kommen damit wieder langfristig in ein Beschäftigungsverhältnis. Zeitarbeit ist ein Sprungbrett zurück in den Arbeitsmarkt.“

Mittlerweile geht auch die Arbeitslosigkeit älterer Menschen zurück. Sie lag im vorvergangenen Jahr mit 6,3 Prozent bei der kritischen Gruppe der älter als 55-Jährigen nur knapp über der Gesamtquote von 5,7 Prozent. Im Januar 2019 waren nur noch sechs Prozent der älteren Arbeitnehmer ohne Job, wobei die Zahl zuletzt wieder leicht angestiegen ist. Wenn jetzt die Konjunktur stärker nachlässt als bislang vermutet, könnte die Arbeitslosigkeit älterer Menschen stärker nach oben gehen.

Denn trotz der zuletzt günstigen Arbeitsmarktentwicklung haben auch die Wissenschaftler des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) festgestellt, dass sich zwar die Chancen der 50- bis 60-Jährigen auf Wiedereinstellung seit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 erhöht haben. Je mehr sich Arbeitnehmer jedoch dem Rentenalter nähern, desto weniger Chancen haben sie auf einen neuen Job. So findet nur jeder dritte der 58- bis 62-Jährigen nach einer Phase der Arbeitslosigkeit einen neuen Job, bei den darüber ist es sogar nur jeder zehnte.

Die IAB-Arbeitsmarktexpertin Pia Homrighausen, verweist auf vielfältige Befragungen von Vermittlungsfachkräften, die von deutlichen Vorbehalten der Unternehmen berichten, ältere Arbeitnehmer einzustellen. Zwar seien diese Auskünfte nicht repräsentativ. Trotzdem vermutet sie, dass die höhere Beschäftigung Älterer vor allem daraus resultiere, dass die Anreize für Arbeitnehmer, früher in Rente zu gehen, deutlich niedriger seien. „Zugleich halten die Unternehmen verstärkt ihre älteren Mitarbeiter, um Fachkräfteengpässen vorzubeugen.“ Vor diesem Hintergrund rücken die Beschäftigungspotentiale Älterer verstärkt in den Blick der Bundesagentur für Arbeit. Ein Mittel, um die Beschäftigungschancen Älterer zu erhöhen, könnten Lohnzuschüsse für Ältere sein, die an den Arbeitnehmer gezahlt werden.

Notwendig wäre das eigentlich nicht. Denn Ökonomen sind bisher den Nachweis schuldig geblieben, dass Ältere in ihren Leistungen nachlassen. Unternehmen schaden sich oft selbst, wenn sie ältere Arbeitnehmer diskriminieren. Tatsächlich haben Studien ergeben, dass die Produktivität mit dem Alter eher steigt. Der Münchner Ökonom Axel Börsch-Supan vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik hat mit seinen Mitarbeitern eine Lastwagenfabrik in Deutschland untersucht und konnte zeigen, dass Teams mit einem höheren Anteil älterer Arbeitnehmer deutlich weniger gravierende Fehler machten als jüngere Arbeitsgruppen.

Ähnliche Ergebnisse wurden bei einer Feldstudie in einem großen Versicherungsunternehmen erzielt. „Die Kompetenz älterer Arbeitnehmer liegt darin, dass sie schwere Fehler vermeiden.“ Das sei in vielen Produktionsverfahren, aber auch bei der Erstellung von Dienstleistungen entscheidend – mehr als Geschwindigkeit oder Flexibilität. Jedoch können Arbeitnehmer im höheren Alter an Grenzen stoßen, wenn sie in Unternehmen arbeiten, die vor allem von den jüngsten technologischen und wissenschaftlichen Innovationen leben, wie sie etwa an den Universitäten und Hochschulen gelehrt werden.

„In Unternehmen der Old Economy sind die Älteren oft produktiver, bei Unternehmen aus dem Bereich neuer Technologien sind die Jungen meist besser“, bringt es der Meinerzhagener Unternehmensberater Karl Niggemann auf den Punkt. Wenn die Kostenrisiken zu hoch würden, hielten sich viele Unternehmen bei der Einstellungen Älterer zurück. „Man sollte Ältere gerade auch als Führungskräfte passgenau einsetzen“, weiß der Mittelstandsberater: So habe er eine 60-jährige pensionierte Führungskraft aus einem Großunternehmen als Berater an eine mittlere Firma mit 30 Millionen Euro Umsatz vermittelt. „Denen kam das Know-how des Konzernspezialisten perfekt zugute“, meint Niggemann.

Auch die renommierte deutsche Altersforscherin Ursula Staudinger, die jetzt an der Columbia-Universität in New York lehrt, hält wenig davon, Arbeitnehmer ab 60 aufs Altenteil zu setzen. „Viele Studien zeigen, dass es ungesund ist, ohne eine Tätigkeit zu leben, die wie die Berufstätigkeit einen Verbindlichkeitsgrad hat, eine Person außerhalb ihrer Familie sichtbar macht und mit regelmäßiger körperlicher und geistiger Aktivität verbunden ist.“ Sie fordert insbesondere die Politik zu sozialen Innovationen auf. „Wenn wir es schaffen, Menschen in der zweiten Lebenshälfte gesundheitlich fit und geistig agil zu halten, haben die den großen Vorteil, auf eine reichhaltige Erfahrung zurückgreifen zu können. Mit einer solchen Basis können wir im Wettbewerb mit jüngeren Gesellschaften gut mithalten“, sagte sie im Interview mit unserer Redaktion.

Besteht doch noch eine Chance für den arbeitslosen Personalexperten Stephan Schale? Er hat vor Kurzem ein Angebot bekommen, als Führungskraft in einem großen mittelständischen Betrieb mit 10.000 Mitarbeitern wieder fest zu arbeiten. Dafür müsste er freilich seine mittlerweile erfolgreiche freiberufliche Tätigkeit komplett aufgeben. Schale zögert noch. „Ich denke darüber nach.“

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