Interview: Klemens Skibicki "Amazon wird der wertvollste Konzern der Welt"
Interview mit dem Wirtschaftshistoriker und Digital-Experten Klemens Skibicki.
Vor 30 Jahren wurde die erste Mail verschickt, heute sind alle online. Was heißt das wirtschaftsgeschichtlich?
Skibicki Wir erleben durch die Digitalisierung gerade eine neue industrielle Revolution. Die Umwälzungen, die mobiles Internet und Social Media auslösen, sind so groß wie die beim Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Das betrifft alle Branchen und Unternehmen, auch wenn viele das noch nicht einsehen.
Am Anfang der industriellen Revolution stand die Dampfmaschine ...
Skibicki Erste Betriebe entstanden dort, wo sie natürliche Energien nutzen konnten, etwa die Wasserkraft von Flüssen oder die Windkraft von Mühlen. Dann kam die Dampfmaschine und machte den Produktions-Ort unabhängig vom Ort der Energieerzeugung, was die Transaktionskosten gewaltig senkte. Das Internet heute hat eine ähnliche Wirkung. Online-Marktplätze lösen reale Marktplätze und Messen ab oder erweitern diese um eine ortsunabhängige Dimension.
James Watt erfand die Dampfmaschine. Wer ist der Watt von heute?
Skibicki Am ehesten Mark Zuckerberg, er hat mit Facebook das Internet massenhaft sozialisiert. Das Soziale Netzwerk ist eine Art Betriebssystem des Internets geworden. Kunden sind nicht mehr einseitig den Informationen der Unternehmen ausgesetzt, sondern sie bestimmen, wem sie vertrauen und wem sie zuhören - eine Marktmachtverschiebung sondergleichen.
Was ist mit Apple-Gründer Jobs?
Skibicki Apple wird langfristig überschätzt. Klar hat Steve Jobs mit dem iPhone und dessen Ablegern ein bahnbrechendes Kult-Produkt entwickelt, weshalb Apple heute der wertvollste Konzern der Welt ist. Am Ende aber schuf Jobs nur ein neues Produkt, andere wie Zuckerberg mit Facebook oder Amazon-Gründer Jeff Bezos dagegen einen Kulturwandel. Bezos hat die Menschen dazu gebracht, im Internet einzukaufen und ihre Macht als Konsument über Bewertungen auszuspielen. Die Chancen stehen gut, dass in wenigen Jahren Amazon der wertvollste Konzern der Welt sein wird.
Und was wird aus Apple?
Skibicki Apple wird zurückfallen, wenn seine Innovationskraft ermüdet. Der Konzern schottet sich zu sehr ab, reglementiert seine Kunden und überzieht Konkurrenten mit Patentklagen. Doch nur wer offen ist für Neues, kann Wandel auf Dauer mitgehen. Das hat auch Grundig leidvoll erfahren: Der TV-Konzern hatte in den 70er Jahren bei Videorekordern auf Video 2000 gesetzt. Das war die bessere Technik als die japanische VHS. Doch Grundig war nicht offen und lehnte etwa die Nutzung für Erotikfilme ab. VHS dagegen war offen für alle - und gewann den Krieg um den Video-Standard.
Zurück zu Amazon: Haben alle Branchen das Prinzip erkannt?
Skibicki Nein. Elektronikmärkte, Buch- und Schuhhandel hat die Abwanderung der Kunden ins Netz bereits erwischt. Bald werden Kunden auf breiter Front den Online-Kauf von Lebensmitteln entdecken. Supermärkte und Lieferanten wie Bofrost haben noch nicht realisiert, dass Amazon bald ihr größter Konkurrent wird.
Wer hat die besten Chancen, die digitale Revolution zu überleben?
Skibicki Keine Branche ist per se dem Untergang geweiht. Doch Branchen, in denen Wettbewerb und Angst schon immer groß waren, werden es leichter haben als Branchen, in denen sich über Jahre Oligopolisten ausruhen konnten.
Was heißt das für den Wettbewerb der Länder?
Skibicki Junge, erfolgshungrige Länder wie die USA, Türkei und Brasilien haben beste Chancen, zu den Gewinnern der digitalen Revolution zu gehören. Alternde Länder wie Deutschland, in denen es beinahe mehr Tarifverträge als W-Lan-Anschlüsse gibt, liegen dagegen hinten. Hier fühlen die Entscheider aufgrund des geringeren Anteils junger, digital aufgewachsener Menschen zu wenig die Kraft dieses Wandels.
ANTJE HÖNING STELLTE DIE FRAGEN.