Analyse Tsipras sucht schon Sündenböcke

Athen · Obwohl ein griechischer Bankrott noch nicht abgewendet ist, sucht der Regierungschef nach Schuldigen. Er versucht, mit dem Ablenkungsmanöver seine missliche Lage zu verschleiern - und verschont gleichzeitig den Hauptschuldigen.

Noch hängt Griechenlands Schicksal am seidenen Faden, da begibt sich Premier Alexis Tsipras schon auf die Suche nach den Schuldigen für den Sparkurs. Drei früheren Regierungschefs könnte die Anklage vor einem Sondergericht drohen. So hatten es Politiker des Linksbündnisses Syriza vor den Wahlen angekündigt. Wohl am Montag wird das Athener Parlament die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beschließen, der durchleuchten soll, wer für den 2010 eingeschlagenen Sparkurs und seine sozialen Folgen verantwortlich ist. Die Einsetzung des Ausschusses gilt als sicher, da nur 120 von 3000 Stimmen erforderlich sind. Untersucht werden sollen die Amtszeiten des sozialistischen Premiers Giorgos Papandreou (Oktober 2009 bis November 2011), des parteilosen Übergangs-Regierungschefs Lukas Papademos (2011 bis 2012) und des konservativen Ministerpräsidenten Antonis Samaras (Juni 2012 bis Januar 2015).

Man sollte meinen, Tsipras hätte genug zu tun, den Staatsbankrott abzuwenden, statt sich in Vergangenheitsbetrachtungen zu verlieren. Tatsächlich ist der Untersuchungsausschuss wohl ein Ablenkungsmanöver. Tsipras "gibt dem Volk Spiele, weil er den Menschen kein Brot geben kann", kommentierte die konservative Nea Dimokratia (ND).

Aber die Sache hat einen pikanten politischen Aspekt. Wenn schon Vergangenheitsbewältigung, warum dann erst ab Ende 2009? Schließlich begann die Krise viel früher. Wenn man wirklich nach den Schuldigen sucht, fiele einem etwa jener Kostas Karamanlis ein, der bei seiner Abwahl im Herbst 2009 ein Haushaltsdefizit von 15,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinterließ - der höchste jemals in einem Euro-Land erwirtschaftete Fehlbetrag.

Tsipras hat gute Gründe, Karamanlis nicht anzugehen. Erstens schont er so seinen Koalitionspartner Panos Kammenos, der unter Karamanlis Staatssekretär war. Auch käme bei einer Prüfung der Ära Karamanlis Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos in Erklärungsnot, der damals Innenminister war. Ihm wird vorgeworfen, Zehntausende Parteigänger der ND in den Staatsdienst geschleust zu haben.

Dass Tsipras den Karamanlis-Protegé Pavlopoulos für das Präsidentenamt nominierte, wurde von vielen als ein Signal interpretiert: Sollte Tsipras die Unterstützung des linksextremen Flügels seiner Partei verlieren, müsste er sich nach einem weiteren Koalitionspartner umsehen. Für diese Rolle könnten die Karamanlis-Getreuen infrage kommen. Tsipras würde so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er sichert seine Mehrheit im Parlament und spaltet zugleich die ND, die damit kaum noch Chancen auf eine Rückkehr an die Macht hätte.

(RP)
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