Düsseldorf "60 plus" – die letzten Jahre im Beruf

Düsseldorf · Der Anteil der über 60-Jährigen, die noch arbeiten, steigt beständig. Die ersten Branchen haben Demografie- Tarifverträge abgeschlossen, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse älterer und jüngerer Beschäftigter eingehen.

45 oder gar mehr Jahre im Beruf und das bei steigender Belastung – wie soll das gehen? Ist es möglich bei der Arbeit kürzer zu treten, beispielsweise wenn Kinder oder Pflegebedürftige zu betreuen sind? Diese Fragen stellen sich viele Beschäftigte. In den ersten Wirtschaftszweigen – etwa in der chemischen Industrie oder in der NRW-Stahlindustrie und seit Anfang des Monats auch bei der Bahn – existieren " Demografie-Tarifverträge", die Antworten auf diese Fragen geben.

Herzstück des Vertrags zwischen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft und Deutscher Bahn ist die "Besondere Teilzeit im Alter". Bahner, die jahrelang in den strapaziösen Wechsel- oder Nachtschichten gearbeitet haben, erhalten ab dem 60. Lebensjahr die Möglichkeit, auf eine Vier-Tage-Woche umzusteigen. Sie arbeiten 20 Prozent weniger, erhalten aber ein nur um 12,5 Prozent gemindertes Gehalt. Der Demografie-Tarifvertrag erhöht außerdem die Zahl der Teilzeitmodelle und schafft die Möglichkeit, Familienpflegezeit in Anspruch zu nehmen.

Gewerkschaftschef Alexander Kirchner sieht den Vertrag als erste Etappe auf dem Weg zu einer durchgeplanten "Erwerbsbiografie". Dies kann bedeuten, dass ein Eisenbahner, der schwere körperliche Arbeit verrichtet, rechtzeitig für den Wechsel auf einen weniger belastenden Arbeitsplatz qualifiziert wird und auf diese Weise eine langfristige berufliche Perspektive erhält.

Nach den Worten von Bahn-Personalchef Ulrich Weber soll der neue Vertrag dem einzelnen Mitarbeiter "ein ganzes Berufsleben bei der Deutschen Bahn ermöglichen". Bei der Konkurrenz um Arbeitskräfte kann Weber jetzt neben dem unbefristeten Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen auch die besser an die "individuellen Berufs- und Lebensphasen" angepassten Arbeitsbedingungen als Argument für sein Unternehmen anführen. Die Bahn sucht wegen des recht hohen Durchschnittsalters ihrer Beschäftigten von 46 Jahren schon jetzt Jahr für Jahr 7000 neue Mitarbeiter. Webers Schlussfolgerung lautet: "Für Unternehmen ist es heute wichtiger denn je, sich robust gegen die demografischen Herausforderungen aufzustellen. "

Weil die Baby-Boom-Jahrgänge allmählich in Rente gehen und der "Kampf um die besten Köpfe" begonnen hat, liegen derartige Tarifverträge seit einiger Zeit im Trend, sagt Mandy Reichel, Tarifexpertin bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Flexiblere Arbeitszeiten böten beiden Seiten Vorteile. Die Unternehmen haben nach Reichels Worten zunehmend ein Interesse daran, ihre Beschäftigten möglichst lange zu halten. Das Bewusstsein wandle sich, heute sei es das Ziel, die Mitarbeiter unabhängig vom Lebensalter zu motivieren und ihnen jederzeit das Gefühl zu geben, dass sie ihrem Job gerecht werden können.

Der Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker gießt allerdings ein wenig Wasser in den Wein. Demografie-Tarifverträge wie bei Bahn, Post und einigen Industriezweigen seien noch einsame "Leuchttürme". Betroffen seien vor allem Männerberufe. Zudem existiere in vielen Branchen – Reinigungsgewerbe oder Pflegedienste – kaum eine Tarifbindung, was derartige vertragliche Lösungen verhindere.

Nicht zuletzt ist die "lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung" eine Kostenfrage. Der in der Chemie-Industrie geltende Tarifvertrag "Lebensarbeitszeit und Demografie" sieht vor, dass der Arbeitgeber jährlich 300 Euro pro Arbeitnehmer in einen Fonds einzahlt (der Betrag steigt mit jeder Tariflohnerhöhung). Die Bahn lässt sich die Vier-Tage-Woche für Wechselschichtdienstler einen ebenfalls dynamisierten Betrag von 25 Millionen Euro pro Jahr kosten. In der chemischen Industrie können die Beschäftigten ebenfalls eine 20-prozentige Entlastung erhalten, sie heißt dort "RV 80".

Die Zahl der älteren Beschäftigten steigt, das mag mit verbesserter Fitness, mit dem Wegfall der staatlich geförderten Altersteilzeit oder auch mit den ersten Erfolgen von Demografie-Tarifverträgen zu erklären sein. Aber nach oben ist noch viel Luft. 2011 – aktuellere Zahlen liegen Bäcker nicht vor – waren gerade einmal 12,5 Prozent aller 63-Jährigen und 9,1 Prozent aller 64-Jährigen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.

(RP)
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