Weitenjagd bei der WM Was die Faszination Skifliegen ausmacht

Düsseldorf · Das Fliegen ist die Königsdisziplin im Skispringen – schneller, höher, weiter, gefährlicher. Bei der WM in Norwegen geht es wieder um Rekorde. Karl Geiger will seinen Titel verteidigen, alle wollen das Gefühl auf der Riesenschanze genießen. Aber was macht das Skifliegen so besonders?

 Der Pole Dawid Kubacki beim Skifliegen in Planica. (Archivfoto)

Der Pole Dawid Kubacki beim Skifliegen in Planica. (Archivfoto)

Foto: AFP/JURE MAKOVEC

Ein Rauschen ist zu hören, schnell und eisig, dann ein ganz kurzer Moment der Stille – bis ein leichtes Sausen wie das eines seichten Windes einsetzt, den Hang hinuntergerauscht kommt. Mit ihm kommt der Skispringer immer klarer ins Blickfeld der Zuschauer. Sieben, acht Meter hoch steht er über dem Boden und überfliegt eine Fläche, die länger ist als zwei aneinandergereihte Fußballfelder – 200 Meter, 220, 230, er kommt dem Hang immer näher, 250 Meter. Mit 130 Kilometern pro Stunde setzt er zur Landung an, setzt auf, wird gebremst.

Das Vier- bis Fünffache des eigenen Körpergewichts lastet nun auf dem Sportler, seinen Gelenken, Muskeln, Organen. Eine Belastung, die nur gut trainierte Menschen aushalten können. Das alles dauert nur etwa 16 Sekunden, der Flug allein nur acht. Und doch ist es ein ganz besonderer Kick – die Faszination Skifliegen.

Dieser Tage wird sie wieder greifbar, wenn sich vom 10. bis 13. März die besten Skispringer bei der Skiflug-Weltmeisterschaft im norwegischen Vikersund mutig von der größten Skiflugschanze der Welt stürzen und versuchen, ihre eigenen Grenzen und die der monströsen Anlage auszudehnen. Die setzt auf der Monsterbakken genannten Schanze bisher der Österreicher Stefan Kraft, der 2017 auf 253,5 Meter sprang – inoffizieller Weltrekord. Inoffiziell, weil der Skiweltverband Fis schon seit Jahrzehnten keinen offiziellen Weltrekord im Skifliegen mehr ermittelt, um die Weitenjagd nicht zu fördern. In Zeiten digitaler Datenbanken und Marketingstrategien von Sportveranstaltern freilich eine wirkungslose Maßnahme, werden die Weiten ja ohnehin gemessen und gewertet.

Aber ob nun offizieller oder inoffizieller Rekord, die immer größeren Weiten sind nur ein Faktor, der das Skifliegen für Athleten wie Zuschauer so besonders macht. Neben dem Kampf um die nächste Bestweite sind es vor allem die Anspannung und Gefahr, das Überwinden und Beherrschen der Angst, der Mut und der Traum des Menschen, dem Gefühl des Fliegens so nah wie möglich zu kommen, die die Faszination ausmachen. Es geht um mehr Geschwindigkeit, Höhe und Weite. Die optischen Reize sind für die Springer viel stärker als sonst, das Nervensystem ist die ganze Zeit über stark beansprucht. Der Körper steht unter Dauerstress, die Springer haben Adrenalin-Werte wie bei Todesgefahr, eine hohe psychische Herausforderung. Das macht das Skifliegen so viel anspruchsvoller als das Skispringen.

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Wer schon einmal vor einem der monumentalen Bauten stand, die meterhoch aus der Landschaft herausragen, oder gar in 70 Metern Höhe auf dem Anlaufturm einer Skiflugschanze stand, bekommt schon gehörig Respekt. Sich da auch noch mit Ski unter den Füßen hinunterstürzen? „Es geht beim Skispringen nicht nur um das Gefühl des Fliegens und die damit verbundene Freiheit. Sondern auch um das Ausreizen von Grenzen und eine Extraportion Adrenalin“, hat der deutsche Skispringer Richard Freitag einmal im Interview mit einem Ausrüster gesagt. „Gerade beim Skifliegen gibt es dann einen Moment, in dem du spürst, dass du vom Hang wegsteigst. Es ist das Gefühl, wofür ich diesen Sport liebe. Ich denke, nur echtes Fliegen ist schöner“, sagte Freitag. 

Es sieht halsbrecherisch aus und gleichzeitig elegant, wie die Sportler sich vom unsichtbaren Luftpolster tragen lassen, mit ihrem Flugsystem das Element beherrschen oder auch um jeden Meter oder gegen den folgenschweren Sturz kämpfen. Da stockt dem Zuschauer bei so mancher brenzlig anmutenden Situation schon mal der Atem. Und auch die Skispringer sind nicht frei von Angst, vielmehr geht es bei der Königsdisziplin ihres Sports darum, sie zu beherrschen. Der frühere finnische Dauersieger Janne Ahonen sagte zum Fliegen im slowenischen Planica mal: „Der Grund, warum ich Skispringer geworden bin, ist hier am deutlichsten spürbar. Die Anspannung, die Unsicherheit, die Selbstüberwindung. All das verdichtet sich genau an diesem Ort. Im Anlaufturm in Planica blickt man anderen Springern nicht nach. Es sieht von oben viel zu extrem aus. Wenn man anfangen würde den anderen nachzublicken, könnte man vor lauter Angst nicht mehr springen.“ 

So oder ähnlich beschreiben es Athleten seit den Anfängen des Skifliegens in den 1930er Jahren. Die erste Skiflugschanze wurde 1930 im damals jugoslawischen Planica von Stanko Bloudek gebaut. Der Erste, der über die 100 Meter sprang, war 1936 der Österreicher Josef Bradl mit 101 Metern. Die Zuschauer waren begeistert von der Weitenjagd, bei der damals noch mehr als heute die Todesgefahr mitflog. Der Norweger Sigmund Ruud bezeichnete die Bloudkova Velikanka in Planica in seiner Autobiografie als „den größten Abgrund, in den je ein Mensch sich vorsätzlich gestürzt hat“. Denn die Schanze war so gebaut, dass die Springer viel höher über dem Hang standen als heute. 1936 erschien dem Weltverband die Gefahr zu groß. Die Fis begrenzte daher den Ausbau von Schanzen.

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In den 1950er Jahren entstanden dann aber weitere Flugschanzen in Oberstdorf und Tauplitz. Weiterhin war die Wettkampfform vor allem unter den Aktiven sehr umstritten. Es sei ein reines Geschäft mit dem Leben der Sportler, sagten einige. 170.00 Zuschauer kamen damals nach Oberstdorf. Die Anlagen wurden immer weiter ausgebaut, den neuesten Erkenntnissen zu Aerodynamik und Flugkurven angepasst. Mit Vikersund in Norwegen, dem Kulm in Österreich und Harrachov in Tschechien kamen weitere Skiflugschanzen hinzu. Erst waren Weiten von 150 Metern möglich, dann gar die lange magische Marke von 200 Metern.

1994 fiel diese erstmals. Andreas Goldberger flog bei der WM 1994 in Planica auf 202 Meter, griff aber in den Schnee. Am gleichen Tag erreichte Toni Nieminen 203 Meter und stand den Versuch. Der Finne gilt offiziell als erster 200-Meter-Springer und bekam dafür damals einen Mercedes als Prämie.

Aber nicht immer passten in der Vergangenheit die baulichen Voraussetzungen der Schanzen zu den Weiten, die das Können und die Windbedingungen den Springern ermöglichten. Oft waren die Aufsprunghänge zu flach, um die ganz großen Weiten noch ohne Verletzung stehen zu können. Österreichs Skisprung-Legende Toni Innauer flog 1976 in Oberstdorf als 17-Jähriger Weltrekord und als Erster über 175 Meter. Innauer musste seine Sprünge jedoch abbrechen, weil sie sonst zu weit gegangen wären. In seiner Biografie schreibt Innauer: „Ich kannte diese Dimension nicht. Was mit mir passierte, verwirrte mich. Ich wusste nur, dass ich zur Erde zurückwollte. Ich wollte Höhe verlieren, um wieder runterzukommen. Ich stand mit beiden Beinen auf der Bremse und landete trotzdem erst bei 174 Meter, das war Weltrekord. Ich wusste: Auf dieser Schanze ist für mich kein optimaler Sprung möglich. Er würde zu weit hinuntergehen.“ 

Zehn Jahre später flog Andreas Felder am Kulm 191 Meter, die Fis lässt den Weltrekord einfrieren. Jeder Sprung, der weiter als 191 Meter ging, wurde ab da nur wie 191 Meter bewertet. Erneut ein Versuch, das Streben nach immer größeren Weiten zu beenden – ohne Erfolg.

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So richtig an Bedeutung gewinnt das Skifliegen auch für den Weltverband erst in den 2000er-Jahren. 191 Meter sind längst nicht mehr der Richtwert. Planica und Vikersund wetteifern darum, wo der nächste inoffizielle Weltrekord geflogen wird. Teilweise gibt es fünf Skifliegen im Weltcup-Kalender. Der Traum von der nächsten Schallmauer, den 300 Metern, wird ab dem Jahr 2010 zum Thema. Das Gedankenspiel der Schanzenbetreiber in Planica und vor allem in Vikersund und am Kulm an sich löst eine Debatte darüber aus, was technisch machbar und körperlich sinnvoll ist. Damals glauben die meisten Experten, dass die 240 Meter und schon gar nicht 250 Meter auf der ausgebauten Schanze in Planica möglich sind, weil sich Material und Anlauf verändert haben. Zugunsten der Sicherheit, nicht zur Weitenjagd, sagte der damalige Fis-Rennleiter Walter Hofer. Die Schanze für einen Flug von 250 oder 300 Metern müsse erst gebaut werden.

Das spektakuläre Vorhaben aus Norwegen, in Oslo eine neue Skiflugschanze für Flüge auf über 250 Meter zu bauen, wurde auf Eis gelegt - zu teuer und zu riskant, so das Urteil. Stattdessen baute man in Norwegen den Vikersundbakken für viel Geld um. 2011 fand der erste Weltcup auf der neuen Anlage statt. Es ging direkt über 240 Meter. Peter Prevec springt 2015 in Vikersund als Erster auf 250 Meter. 2013 wurde auch die Letalnica in Planica so umgebaut, dass Flüge über 250 Meter möglich sind. Den Schanzenrekord hält Ryoyu Kobayashi mit 252 Metern.

Dass Flüge auf über 250 Meter möglich sind, wissen wir inzwischen also. Aber die Springer müssen dafür ein sehr sicheres Flugsystem haben und gut landen können. Trägt es einen unerfahrenen Skispringer so weit herunter, kann es gefährlich werden. Die Belastung für Knie und Rücken ist enorm. Bei Stürzen sind die Folgen deutlich erheblicher als bei geringeren Weiten mit weniger Höhe und Geschwindigkeit. Das hat erst im vergangenen Jahr der schwere Sturz des Norwegers Daniel-André Tande gezeigt. Bei unberechenbarem Wind verlor er die Kontrolle, stürzte aus großer Höhe auf den Hang und erlitt schwere Verletzungen an Kopf und Rücken, lag einige Tage im künstlichen Koma. Inzwischen springt er wieder um Weltcupsiege

Ein Sturz, den niemand sehen will. Und doch macht gerade dieses Risiko, diese Gefahr des Unbeherrschbaren, die immer da ist, etwas von der Faszination aus – mindestens für die Zuschauer. Und so werden die Flüge an die 250 Meter auch bei der WM in Vikerssund und den darauffolgenden Skiflug-Weltcups in Oberstdorf und in Planica die Zuschauer in den nächsten Wochen begeistern.

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