Zum MVP der NHL gewählt Leon, der Profi

Düsseldorf/Edmonton · Leon Draisaitl (24) ist der beste Spieler der NHL — und damit der Welt. Der Kölner wandelt auf den Spuren von Eishockey-Halbgott Wayne Gretzky — und Dirk Nowitzki.

Eishockey, NHL: Das ist Leon Draisaitl - Edmonton Oilers, German Gretzky
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Das ist Leon Draisaitl

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Foto: dpa/Chris Brown

Sein Name gehört unter dem Stichwort Ironie ins Lexikon: Leon Draisaitl (24) ist derzeit der beste Eishockeyspieler der Welt und klar auf dem Weg zum größten deutschen Spieler in der Geschichte. In Deutschland aber ist er der breiten Öffentlichkeit kein Begriff – und selbst in seinem eigenen Team ist der Kölner nicht König.

Draisaitl spielt seit 2014 bei den Edmonton Oilers, doch nur ein Jahr später fiel eben diesem Klub auch ein gewisser Connor McDavid in den Schoß – Jahrhunderttalent und heute bestbezahlter Spieler der Liga. Die Führung in der Scorer-Tabelle, die Tore und Torvorlagen addiert, machen die beiden seit Monaten unter sich aus. Mit 110 Punkten für Tore und Vorlagen aus 71 Spielen in der corona-bedingt verkürzten Hauptrunde war er bester NHL-Scorer geworden.

Statistisch sind sie beinahe gleichauf, doch Draisaitls Spiel ist weniger spektakulär, elegant, improvisiert. Deutscher, sozusagen. McDavid ist der Superstar der Liga. Sein Trikot ist der Verkaufsschlager. Der Kanadier wird regelmäßig mit Lionel Messi verglichen – Draisaitl wurde 2017 von einem Reporter als Thomas Müller des Eishockey beschrieben: „Er ist immer torgefährlich, dabei aber stets in Gefahr, über seine eigenen Füße zu stolpern.“ Das war als Kompliment gemeint, ist aber ohnehin längst passé. Heute erinnert der bullige Mittelstürmer (1,88 Meter, 95 Kilo) eher an Robert Lewandowski. „Ich weiß, was ich leisten kann“, sagt er. „Aber ich weiß auch, dass wir gar nichts erreichen, wenn ich alleine spiele.“

Zum Eishockey kam Draisaitl nicht zufällig; sein Vater Peter war 146-facher Nationalspieler und Deutscher Meister. Leon spielte als Grundschüler für die Kölner Haie, 2012 wagte er als 16-Jähriger den Wechsel in Kanadas Juniorenliga CHL. Zwei Jahre später wurde der Exot beim NHL-Draft, der zentralen Talent-Börse, als Dritter gezogen. Und zwar von den legendären Oilers aus Kanadas Öl-Hauptstadt Edmonton. Einst holten sie fünf Meistertitel in sieben Jahren, vor allem dank des legendären Wayne Gretzky, der längst als 400 Kilo schwere Statue vor der Eishalle steht. Doch das war in den Achtzigern, seit 1990 haben die Fans in Edmonton wenig zu feiern. Draisaitl macht ihnen Mut – vergangene Saison knackte er die magische 50-Tore-Marke.

Auch in der Nationalmannschaft ist er längst Leistungsträger – zum sensationellen Gewinn von Olympia-Silber im Februar 2018 allerdings konnte er nichts beitragen; die NHL hatte ihre Spieler nicht für das Turnier freigestellt. Bundestrainer Toni Söderholm kritisierte sein Juwel: „Leon kann auf alle Fälle besser in der Defensive arbeiten. Ich denke nicht, dass das ein Geheimnis ist.“ Draisaitl gab die Antwort auf dem Eis.

Er ist Vollprofi, sein Englisch ist völlig akzentfrei, über die Sozialen Medien meldet er sich selten zu Wort, und falls doch, dann mit Videos von Waldläufen. „Natürlich will ich auch individuelle Trophäen gewinnen“, sagt er, mit genau dem richtigen Mix aus Ehrgeiz und Bescheidenheit. „Aber es ist ein Mannschaftssport. Ich versuche, dem Team beim gewinnen zu helfen.“

Dabei steht er im Schatten gleich dreier Männer; in seiner Stadt sind es sein Mitspieler McDavid und der große Gretzky, als deutscher Sportler in Nordamerika wird er an Dirk Nowitzki gemessen. Den Würzburger nennt er „eine Inspiration“; er habe „immer angestrebt, so zu sein wie er“. Mit Dirk ist er per Du, im Sommer kicken sie gemeinsam für den guten Zweck – Vergleiche aber weist er angemessen weit von sich. Der Würzburger, der jüngst seine Karriere beendete, steht für einmalige Konstanz; sein Team führte er in 15 von 21 Jahren in die Playoffs. Der NBA-Titel 2011 war eher das Sahnehäubchen. Draisaitl hat es mit den Oilers bislang erst ein einziges Mal in die Playoffs geschafft.

Aktuell scheint er dafür im falschen Team zu spielen. So spektakulär die Offensive der Oilers mit Draisaitl und Kapitän McDavid auch ist - defensiv hat das Team etliche Schwächen. Überraschend hatte Edmonton die Playoffs wegen eines 1:3 in der Qualifikationsrunde gegen Außenseiter Chicago erst gar nicht erreicht.

Das Eishockey-Idol schlechthin überbrachte ihm in der Nacht auf Dienstag dann die Nachricht sport-historischen Ausmaßes: Gretzky informierte den 24-Jährigen in der deutschen Nacht per Videoanruf über seine Auszeichnung als wertvollster Spieler (MVP) in der weltbesten Liga.

Draisaitls Acht-Jahres-Vertrag über 68 Millionen Dollar (61,4 Mio. Euro) gilt heute als Schnäppchen. Er verbessert sich von Jahr zu Jahr, im Januar wurde er erstmals ins All-Star-Team gewählt. Für McDavids Anwesenheit sei er dankbar: „Wir machen uns gegenseitig besser. Ich freue mich über seine Tore und er sich über meine. Es ist ein gesunder Wettkampf.“ Das „Edmonton Journal“ jubelt: „Sie können den Gipfel von Mount Gretzky sehen.“

Sportlich ist Draisaitl auf dem besten Weg. Und charakterlich erinnert er an Timo Boll, den anderen deutschen Weltstar, dessen Sportart hierzulande nur überschaubare Aufmerksamkeit zuteil wird. Auf jede Frage antwortet er diplomatisch, bei jeder Gelegenheit lobt er seine weniger begnadeten Mitspieler, die ihm ja buchstäblich den Rücken freihalten. Edmonton liebe er: „Auf jedem Teich wird hier Eishockey gespielt. Das ist wie Fußball in Brasilien.“ Dennoch vermisse er seine kölsche Heimat samt Karneval und FC, die Spaghetti seiner Mutter und die Apfelpfannkuchen seiner Oma.

Der Spitzname „German Gretzky“, den man Draisaitl zunächst vor allem der Alliteration wegen verpasste, wirkt von Woche zu Woche weniger übertrieben. 2014 hatte der damalige Bundestrainer Pat Cortina über ihn gesagt: „Ob die Erwartungen zu groß sind, weiß ich nicht.“

Und, direkt danach: „Vielleicht wird er auch besser als Gretzky.“

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