Tour de France 2020 Das Tour-Zeugnis der deutschen Fahrer
Zwölf deutsche Radprofis starteten am 29. August in die 107. Tour de France, ihre Bilanz fällt höchst unterschiedlich aus. Einige fuhren ins Rampenlicht, andere leisteten wichtige Helferdienste, doch es gab auch diverse Tiefschläge. Das SID-Zeugnis:
Emanuel Buchmann (Ravensburg/Bora-hansgrohe): Der Enttäuschte.
"Es ging mir schon mal besser" oder "ich bin nicht bei 100 Prozent" waren häufig gehörte Sätze von Buchmann. Nach dem vierten Platz im Vorjahr hatte der Kletter-Spezialist dem Rennen mit großen Ambitionen entgegengeblickt. Statt des Podests in Paris wurden es am Ende über zwei Stunden Rückstand. Buchmann, der im Vorfeld der Tour schwer gestürzt war, konnte sein Potenzial wegen der Blessuren nie ausschöpfen und rollte seit dem ersten Ruhetag nur noch mit. Er wird 2021 einen neuen Anlauf wagen.
Lennard Kämna (Wedel/Bora-hansgrohe): Der Shootingstar.
Als großes Talent galt Lennard Kämna schon lange, nun darf sich der 24-Jährige Tour-Etappensieger nennen. Sein Erfolg in Villard-de-Lans - der einzige eines deutschen Fahrers bei der Tour 2020 - war ein taktisches Meisterstück und der endgültige Durchbruch. Womöglich wächst Kämna zu einem Top-Rundfahrer heran, auch wenn der ungeliebte Vergleich zu Jan Ullrich hinkt. Wohin Kämnas Weg führt, wird die Zeit zeigen. Wahrscheinlich ist, dass er von Erfolg geprägt sein wird.
Maximilian Schachmann (Berlin/Bora-hansgrohe): Der Kämpfer.
Ein gebrochenes Schlüsselbein? Kein Problem! Der deutsche Ex-Meister startete angeschlagen in die Tour, doch das merkte man kaum. Schachmann steigerte sich stetig und erwies sich in der Bora-Mannschaft als verlässlichster Helfer. Als klar war, dass Buchmann nicht ums Podium kämpfen kann, erhielt er Freiheiten - und nutzte sie in Fluchtgruppen. Fast hätte es sogar mit einem Etappensieg geklappt. Am Puy Mary im Zentralmassiv wurde er starker Dritter.
Simon Geschke (Berlin/CCC Team): Der Ausreißer.
Geschke startete unauffällig in die Tour, lange war der Mann mit dem Bart im Peloton kaum wahrzunehmen. In der zweiten Tourhälfte drehte der Etappensieger von 2015 aber auf. Mehrfach fuhr Geschke in Fluchtgruppen, zwei Mal reichte es für einen Top-10-Platz. Seine CCC-Mannschaft befindet sich in Auflösung. Mit seiner aktiven Fahrweise dürfte Geschke auf die Wunschliste diverser Teams gelandet sein.
Andre Greipel (Rostock/Israel Start-up Nation): Der Patient.
Wunden, Kniebeschwerden, Durchfall, Erkältung - Sprinter Greipel füllte allein eine Krankenakte, die ganze Teams in Schwierigkeiten gebracht hätte. Mit einem Sturz beim Auftakt in Nizza nahm die Pechsträhne des "Gorillas" ihren Anfang. Ans Sprinten war für den elfmaligen Etappensieger meist nicht zu denken. Nur einmal kämpfte er um den Sieg, wurde Sechster auf der Ile de Re. Aufgeben kam für ihn bis zur 18. Etappe trotzdem nicht infrage. Seine womöglich letzte Tour beendete er zwar nicht in Paris, dennoch bleibt das Bild eines großen Kämpfers.
Nils Politt (Köln/Israel Start-up Nation): Der Arbeiter.
Für Politt gilt dasselbe wie für sein Team, das erstmals bei der Tour startete. Für Glanzlichter sorgten andere. Doch Politt zeigte abermals seine Stärken, er war als leidenschaftlicher Arbeiter gefragt und absolvierte seine Aufgabe verlässlich. Vereinzelt gelang ihm der Sprung in eine Fluchtgruppe.
Tony Martin (Cottbus/Jumbo-Visma): Der Wortführer.
Die Tour 2020 endete für den Routinier mit einem Schock. Lange erschien sein Teamkollege Primoz Roglic als sicherer Gesamtsieger, dann verlor der Slowene das Gelbe Trikot im entscheidenden Zeitfahren an seinen Landsmann Tadej Pogacar. Trotzdem war das Rennen für Martin ein Erfolg. Er war Wortführer und "Road Captain" beim Team Jumbo-Visma, hatte einen nicht zu unterschätzenden Anteil am guten Gesamtauftritt der schwarz-gelben Equipe. Als Tempobolzer im Flachen war der viermalige Zeitfahrweltmeister Martin unerlässlich.
John Degenkolb (Gera/Lotto-Soudal): Der Pechvogel
Für den Klassikerjäger endete die Tour schon in Nizza. Als einer von vielen stürzte Degenkolb am ersten Tag auf regennasser Straße, kaum einen erwischte es so schwer wie ihn. Mit einer Knieverletzung schleppte er sich ins Ziel - allerdings außerhalb des Zeitlimits. Tour vorbei.
Roger Kluge (Eisenhüttenstadt/Lotto-Soudal): Der Letzte
Schaut man nur auf die Zahlen, müsste man Roger Kluge wohl ein vernichtendes Zeugnis ausstellen. Letzter! Als erster Deutscher seit Willy Kutschbach im Jahr 1935 holte Kluge die Rote Laterne. Kluge war das ziemlich egal, denn seine Ziele hatte er erreicht. Kluge war als Helfer für Sprinter Caleb Ewan bei der Tour und machte seine Sache ausgezeichnet. Er zog den kleinen Australier nicht nur über die Berge, auch Ewans Siege bei den Massenankünften bereitete er vor.
Max Walscheid (Neuwied/NTT Pro Cycling): Der Newcomer
Walscheid spielte bei seiner Tour-Premiere nur eine Nebenrolle. Anfangs schaffte er mit seinen 1,99 m im Massensprint Räume für seinen Teamkollegen Giacomo Nizzolo. Nach dessen Ausstieg hatte Walscheid in den Flachetappen selbst mehr Freiraum. Vereinzelt zeigte er sich als Ausreißer.
Jonas Koch (Schwäbisch Hall/CCC Team): Der Newcomer II
Koch fuhr eine sehr engagierte erste Tour-Woche, war bei den Sprintentscheidungen in Nizza und Sisteron zweimal der beste Deutsche - wenngleich nur auf den Plätzen 21 und 13. Koch sammelte wertvolle Erfahrungen und machte sich für andere Teams interessant. Nach einem Sturz auf der zehnten Etappe war von Koch in den Bergen aber nicht mehr viel zu sehen.
Nikias Arndt (Buchholz/Sunweb): Der Gute-Laune-Kapitän
Das Sunweb-Team zählte zu den Gewinnern der Tour - und das lag auch an Nikias Arndt. Zwar holte der 27-Jährige keinen Etappensieg, dennoch hatte er an den Erfolgen seiner Mannschaft einen großen Anteil. Marc Hirschi und Sören Kragh Andersen, die drei Tageserfolge für Sunweb einfuhren, betonten stets die gute Atmosphäre in der Mannschaft als Basis ihrer Siege. Für diese ist Arndt, der "Road-Captain" der deutsch-lizenzierten Equipe, maßgeblich verantwortlich. Auch mit den taktischen Entscheidungen auf der Straße lag Arndt häufig richtig.