Eiskunstlauf-Wunderkind Das Drama um Walijewa gibt Einblicke in ein kaputtes System

Meinung | Düsseldorf · In wenigen Tagen durchlief Kamila Walijewa einen Vollwaschgang – wurde vom Wunderkind zur mutmaßlichen Dopingsünderin und zum gefallenen Eiskunstlauf-Stern. Mit 15. Ihr fragwürdiges Umfeld offenbart bei diesem Drama auf der Weltbühne Einblicke in ein System, von dem man gehofft hatte, es sei ausgestorben.

 Kamila Walijewa nach einem Sturz auf dem Eis.

Kamila Walijewa nach einem Sturz auf dem Eis.

Foto: dpa/Peter Kneffel

Eiskunstlauf schwebte schon immer zwischen den Welten. Anmaßende Ist-das-überhaupt-Sport-Debatten wie Schach oder Darts muss die Disziplin nicht ausfechten. Man muss schließlich nicht einmal selbständig auf Schlittschuhen stehen können, um zu erahnen, wie viel denAthleten abverlangt wird. Den Schmerz einfach wegzulächeln und mit dem Anschein flatterhafter Mühelosigkeit Auftritte vorzutragen, die mit größter körperlichen Anstrengung erkauft wurden, ist das Wesen dieser Sportart. Die Vereinigung von Ästhetik und Athletik, angereichert um Schauergeschichten über erbitterte Konkurrenz, totale Hingabe und erbarmungslose Trainingsmethoden verleihen der Sportart einen dunklen Reiz – ein Stoff wie gemacht für die Leinwand. 

Selbst Hollywood würde 2022 aber vermutlich von Klischees absehen, wie sie derzeit in Peking zur Aufführung kommen. Die Handlung ging in etwa so: Eine den meisten bis dahin unbekannte 15-Jährige wird vor den Augen der Welt erst zur „Eisprinzessin“ hochgekitscht, um nach einem unwirklich guten Auftritt als mutmaßliche Dopingsünderin dazustehen. Es folgen einige schwindelerregende Erklärungen ihrer Entourage und die Athletin aus Russland (die aufgrund des zumindest zwischenzeitlich erfolgreich praktizierten Staatsdopings ihres Heimatlandes nicht einfach als Russin an den Start geht) darf nur noch unter Vorbehalt zum Finale. Dort kann die Welt mit ansehen, wie ein heranwachsender Mensch, über dessen Reifegrad fortan öffentlich verhandelt wird, zerbricht.

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Die menschlichste Regung wäre es gewesen, Kamila Walijewa nach diesem auf allzu wahren Begebenheiten beruhenden Drama und ihrer verlorenen Medaille einfach in den Arm zu nehmen. Doch ihre Trainerin Eteri Tutberidse, die sich bei ihren Methoden dem Vernehmen nach Abscheulichkeiten aller Geschmacksrichtungen bedient, maßregelte die ihr eigentlich Schutzbefohlene mit eisiger Miene und harschen Worten. Tutberidse füllte ihre Rolle als Bösewicht so überzeugend aus, dass einem fröstelt.

Doch der Fehler liegt nicht in den menschlichen Makeln der Protagonisten, sondern wie so häufig im System. Besteht tatsächlich eine innere Notwendigkeit, dass eine 15-Jährige überhaupt an olympischen Spielen teilnimmt? Allein die Möglichkeit fördert den Geist, der einst in kommunistischen Kaderschmieden gespukt hat. Doch es ist verführerisch leicht, auf die vermeintlich Unverbesserlichen dieser Welt zu zeigen und dabei zu ignorieren, dass sich auch in Walijewas Heimat natürlich kritische Stimmen mehren. Leistungssport insgesamt steht dabei in Mitverantwortung. Es ist doch so: Die Welt wird kein Stück besser allein dadurch, dass irgendjemand besser Schlittschuh fährt. Allerdings ist auch ein Endspiel einer Fußball-WM nicht von höherem Belang. Sport hat immer nur die Bedeutung, die wir ihm zugestehen. Dabei ist der Leistungsgedanke die Keimzelle des Sports – lange vor körperlicher Betätigung. Man könnte sich auch um die Wette hinsetzen und daraus eine Disziplin entwerfen, der ewige Vergleich, sich ständig neu zu messen, fasziniert Menschen auf der ganzen Welt. 

Gerade Olympia war ja vor zahlreichen Fehltritten und Verwerflichkeiten wie nun der Vergabe der Spiele nach China einmal das Hochamt des Sports und hat mit seinem quasi-religiösen Angang auch immer ein Innehalten eingefordert, den Blick nach rechts und links und auf die hinteren Plätze. Dabeisein ist alles, hieß es da mal. Das galt aber seit jeher höchstens für einige - für andere steht die schiere Existenz auf dem Spiel, da können Millimeter und Hundertstel über Fördergelder und mithin darüber entscheiden, ob die Athleten ihren Sport noch professionell ausüben können.

Ohne gleich den Leistungsgedanken zu verabschieden und fortan nur noch Teilnehmerurkunden zu verteilen, bedarf es dringend besonderer Schutzräume – besonders für Minderjährige. Dass eine 15-Jährige, die weite Teile ihres Lebens unter den Fittichen von fragwürdigen Figuren verbracht hat, nicht gegen das System aufbegehrt, ist ihr zuletzt anzulasten. Ob eine 15-Jährige künftig überhaupt noch bei Olympia starten darf, sollte als Frage vielleicht  auf die Tagesordnung. Einem ausgefeilten Betrieb, der nur dazu besteht, um neue Jahrhunderttalente zu erschaffen um sie anschließend – allzu oft ins Bodenlose – zu entlassen, wird man das Handwerk so nicht legen. Es wäre aber ein Zeichen zumindest guten Willens. Unmissverständlich anzumerken, dass Sport in dieser Eiseskälte eine entscheidende Komponente abgeht, um noch eine Daseinsberechtigung als vereinende Kraft jenseits reiner Leistungsschau aufrechtzuerhalten.

Figuren wie Tutberidse derweil sollten sich nicht erst mit drittklassigen Dopingpossen dafür bewerben müssen, aus dem Verkehr gezogen zu werden. In der Bewerbung für kommende Jobs sollte schon auf dem Deckblatt stehen: Hauptsache nichts mit Menschen. 

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