Fassungslosigkeit und Wut bei Ringern Weltweite Empörung über drohendes Olympia-Aus

Lausanne · Mit diesen heftigen Reaktionen hat das IOC nach dem historischen Olympia-Aus fürs Ringen wohl nicht gerechnet. Die internationale Ringer-Szene und Weltpresse reagierten mit Unverständnis und Wut. Selbst eine Revision der vorläufigen Entscheidung scheint möglich.

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Foto: dpa, EPU

Mit diesen heftigen Reaktionen hat das IOC nach dem historischen Olympia-Aus fürs Ringen wohl nicht gerechnet. Die internationale Ringer-Szene und Weltpresse reagierten mit Unverständnis und Wut.
Selbst eine Revision der vorläufigen Entscheidung scheint möglich.

Müde versuchte IOC-Präsident Jacques Rogge die weltweite Wut und Empörung nach dem angekündigten Olympia-Aus für das Ringen schönzureden. Sogar der Kreml mischte sich ein. Innerhalb von Stunden formierte sich eine internationale Allianz. Der Iran, die Türkei und Russland kündigten Protest an, durch die USA ging ein Aufschrei, und Ringer-Legende Alexander Karelin entwickelte Verschwörungstheorien - nach seinem historischen Urteil gegen Ringen stand das IOC am Pranger. Rogge und seine Spitzenfunktionäre sahen sich Vorwürfen ausgesetzt, eine jahrtausendealte Sportkultur für die Modernisierung und Kommerzialisierung ihres Premium-Produkts Olympia geopfert zu haben.

"Wir sind uns der heftigen Reaktionen bewusst. Wir wussten, dass wir Kritik einstecken mussten, egal, welche Sportart es erwischt", sagte der belgische Boss des Internationalen Olympischen Komitees am Mittwoch in Lausanne erschöpft. Er bestätigte, mit dem Präsidenten des Internationalen Ringer-Verbandes (FILA), Raphaël Martinetti, bereits Kontakt aufgenommen zu haben. "Sie haben versprochen, ihren Sport weiterzuentwickeln und zu kämpfen, um im Programm für 2020 bleiben zu können."

Revision inzwischen möglich

Quasi über Nacht schienen Rogge und sein Kabinett ihre Haltung geändert zu haben. Selbst eine Revision des vorläufigen Entschlusses, den Traditionssport von 2020 an aus dem olympischen Programm zu streichen, ist inzwischen möglich. Der FILA-Vorstand will an diesem Wochenende in Thailand eine globale Strategie erarbeiten, mit der die eigene Zukunftsfähigkeit untermauert werden soll. Vor diesem Hintergrund wertete IOC-Vize Thomas Bach die sportpolitischen Prügel nicht nur aus der internationalen Ringerszene sogar als positiv. "Wir freuen uns über diese Reaktion. Das ist der richtige Weg. Das zeigt, unsere Botschaft ist offenbar angekommen", sagte Bach, "die Tür für Ringen ist noch nicht geschlossen. Es ist noch nichts entschieden."

Die IOC-Session muss im September in Buenos Aires endgültig beschließen, welcher der sieben olympischen Ersatzkandidaten (Baseball/Softball, Klettern, Karate, Rollschuhsport, Squash, Wakeboarden, Wushu) nachrückt oder ob Ringen seinen Olympia-Status doch behalten darf. Auf jeden Fall dürfen die Mattenkämpfer der IOC-Exekutive Ende Mai in St. Petersburg demonstrieren, wie die versprochenen Sofortmaßnahmen aussehen. "Ich halte die Wahrscheinlichkeit für sehr groß, dass wir der Vollversammlung in Buenos Aires mehr als eine Sportart vorschlagen werden", erklärte Bach der Nachrichtenagentur dpa vieldeutig.

Das weltweite Stimmungsbild nach dem unerwarteten und umstrittenen Votum der 15-köpfigen IOC-Regierung war eindeutig. Eine symbolträchtige Wurzel zur Antike, mit der die olympische Bewegung viele ihrer Aktivitäten immer wieder legitimiert, sei durch den angekündigten Olympia-Ausschluss für das Ringen abgetrennt. "Die Herren des IOC töten den olympischen Geist", schimpfte der Präsident des griechischen Verbandes, Kostas Thanos.

Die IOC-Führung habe mittlerweile so wenig mit dem olympischen Geist zu tun, dass sie den Text der eigenen olympischen Hymne ignoriere. Dort heiße es in Strophe zwei: "..... Beim Laufen, Ringen und beim Weitwurf", sagte Thanos. Sollte Ringen abgeschafft werden, dann sollten sie nicht mehr Olympische Spiele heißen, sondern in Olympische "Business Games" umbenannt werden, meinte der Grieche.

"Ich bin kein Fan von Verschwörungstheorien, aber mir scheint, dass die wahren Gründe für diese Entscheidung offensichtlich sind", erklärte Russlands dreimaliger Olympiasieger Karelin. Der Riese aus Nowosibirsk vermutet die Überlegenheit Russlands und der ehemaligen Sowjetunion, die bisher 77 olympische Goldmedaillen im Ringen gesammelt haben, sei ausschlaggebend gewesen.

In den USA wurde nur Minuten nach Bekanntwerden der IOC-Entscheidung eine Unterschriftenaktion gestartet, mit der das Weiße Haus aufgefordert werden soll, sich für Ringen einzusetzen.
Bereits am Mittwochnachmittag hatten die Bittsteller mehr als 15 000 Unterschriften für den "ältesten Sport der Welt" gesammelt. 100 000 Stimmen werden benötigt, damit sich die Obama-Regierung mit dem Thema befasst.

Identitätskrise

Der große Aufruhr stürzte die Ringe-Organisation wieder einmal in eine Identitätskrise. Inoffiziell warf das IOC dem Ringer-Weltverband fehlende Innovations- und Kooperationsbereitschaft vor. Trotzdem wirkte der angekündigte Ausschluss als zu heftige Reaktion auf die Passivität der Mattenkämpfer, die in immerhin 177 Mitgliedsverbänden weltweit organisiert sind und bereits bei den antiken Spielen 708 vor Christus im Programm waren. Nur mit diesem Warnschuss würde FILA-Chef Martinetti aufwachen, argumentierte das IOC. Seine zeitnahe Ablösung gilt als denkbar. "Ich hege keinen Zweifel, dass unsere Eintracht und Solidarität es uns ermöglicht, diese Feuerprobe zu bestehen", sagte Martinetti staatstragend und zeigte sich "erstaunt" über die IOC-Exekutive.

Auch die Weltpresse quittierte das überraschende Urteil mit Unverständnis für das IOC. "Die Olympier haben Ringen von den Spielen abgehackt", schrieb die "Los Angeles Times". Die "Chicago Tribune" kommentierte martialisch: "Ode ans Ringen: Das IOC bringt den Sport um." Ringen ist in den USA bereits in den Colleges ein weit verbreiteter Sport. "Das IOC schmeißt den ältesten olympischen Sport raus", war die Überschrift in der "Gazzetta dello Sport".

Für das russische Blatt "Kommersant" ist Ringen "für Russland eine der wichtigsten Quellen seines sportlichen Nationalstolzes seit Sowjetzeiten". Deshalb löste die ablehnende IOC-Haltung gegen die klassische Sportart der Antike selbst im Kreml Aufregung aus. "Die Autoren dieser Entscheidung sollten einer Doping-Kontrolle unterzogen werden", twitterte der russische Vize-Regierungschef Dmitri Rogosin provozierend.

(dpa/seeg/csi/are)
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