Paralympics gehen zu Ende Anerkennung ist wichtiger als Gold, Silber und Bronze

Analyse | Tokio · Wenn an diesem Wochenende die Paralympics in Tokio zu Ende gehen, wird auch auf den Medaillenspiegel geblickt. Aus deutscher Sicht fällt die Bilanz ernüchternd aus. Dabei sind andere Dinge viel wichtiger als die reine Medaillenausbeute.

 Markus Rehm ist der Superstar des deutschen Parasports und gewann Gold im Weitsprung.

Markus Rehm ist der Superstar des deutschen Parasports und gewann Gold im Weitsprung.

Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Die Paralympics haben den Behindertensport in den vergangenen Wochen wieder einmal etwas mehr in den Fokus gerückt. Es gab emotionale Momente und Rekorde – und doch bleiben auch die deutschen Behindertensportler und -Sportlerinnen, nach dem Team des Deutschen Olympischen Sportbundes, leistungs- und medaillentechnisch in der Breite hinter den Erwartungen zurück. Es läuft aktuell alles auf das schlechteste Abschneiden seit den Paralympics 1968 in Tel Aviv hinaus. Die Bilanz wird ernüchternd ausfallen. Andere Dinge bereiten aber mehr Kopfschmerzen.

Freilich schrieben deutsche Athleten und Athletinnen schöne Geschichten. Die Radsportlerin Jana Majunke zum Beispiel, die gleich doppelt Paralympics-Siegerin wurde. Oder der Leverkusener Markus Rehm, der wie erwartet Gold im Weitsprung gewann. Doch das ganz große Ziel verpasste auch der Superstar des deutschen Behindertensports: Er wollte weiter springen als Olympiasieger Miltiadis Tendoglou. Das hätte er schon gern bei den Spielen selbst getan – doch er durfte aufgrund seines vermeintlichen Wettbewerbsvorteils mit der Beinprothese nicht an den Start gehen.

Diesen hatte er bei den Paralympics nun nicht – wobei, eigentlich schon. Wie Rehm selbst sagt. „Ich habe natürlich Bedingungen, von denen andere Athleten träumen. Von meinem Sponsor kriege ich meine Prothesen zur Verfügung gestellt. Ich muss dafür nichts bezahlen. Und wenn mir eine nicht ganz genau passt, lege ich sie weg und kriege eine neue“, sagte er. Anderen Athleten geht es da nicht so gut. Der Zugang zu Hilfsgeräten ist schwierig und teuer. Weshalb im Medaillenspiegel vor allem Nationen vorne platziert sind, die eine Menge Geld investieren können.

So steht auch nach diesen Paralympics fest, dass der Behindertensport weltweit noch deutliches Wachstumspotenzial hat. Um die 4400 Sportler und Sportlerinnen waren in den vergangenen zwei Wochen bei den Paralympics am Start. Noch vor ein paar Wochen waren es bei den Olympischen Spielen mehr als 11.000. Wenngleich das Internationale Paralympische Komitee (IPC) betont, dass nach Rio de Janeiro wieder einmal ein Bestwert aufgestellt wurde. Auch sei das mediale Interesse deutlich größer gewesen.

Wie viel mehr aber möglich ist, zeigt ein Blick auf die Statistik. 15 Prozent der Weltbevölkerung lebt mit einer Behinderung. Deshalb will sich das IPC mit der Kampagne „WeThe15“ (Deutsch: Wir die 15) verstärkt gegen Diskriminierung von behinderten Menschen und für deren Förderung einsetzen. Nur ein Bruchteil hat nämlich bisher überhaupt einen Zugang zum Sport. Wie der bestens geschaffen wird, zeigen etwa die Niederlande, die bei der Ausgabe der Paralympics deutlich besser abschneiden werden als etwa Deutschland. Weil dort die Inklusion gelebt wird. Jedes Kind, das eine Behinderung hat, bekommt dort eine Prothese oder einen Rollstuhl vom lokalen Bezirk bezahlt. Zwar haben auch in Deutschland Minderjährige über die Krankenkasse den Anspruch darauf, doch die Strukturen im Nachbarland sind stärker ausgebaut.

So kommt es, dass in Deutschland händeringend nach Nachwuchs gesucht wird – unter anderem auch in Leverkusen, dem größten Parasport-Stützpunkt hierzulande. Zudem fehlt es an geschulten Trainern im Umgang mit Behinderten. Problematisch ist auch das geringe Interesse am Behindertensport in Deutschland generell. Das spiegelt sich in den Vergleichszahlen der TV-Anstalten wider. Obwohl ARD und ZDF tagsüber live von den Paralympics berichteten, sind die Einschaltquoten weit geringer als noch bei den Olympischen Spielen. Auch wird nachts nicht live im linearen Programm übertragen, während vor einigen Wochen noch selbst der olympische Triathlon oder Geher-Wettbewerbe – beides Sportarten, die nicht oft im Programm sind – über die gesamte Distanz gezeigt wurden. Dabei wurden in Tokio auch von den Parasportlern herausragende sportliche Leistungen gezeigt oder emotionale Geschichten geschrieben. Im Fokus der breiten Öffentlichkeit nimmt das aber nur selten Raum ein.

Probleme sind im Behindertensport auch hausgemacht, wie das Beispiel Josia Topf bei diesen Paralympics deutlich machte. Der 18-jährige Schwimmer, der von Geburt an keine Arme, keine Knie und zwei unterschiedlich lange Beine hat, wurde kurz vor den Tokio-Spielen neu klassifiziert. Er musste plötzlich in Tokio gegen Schwimmer antreten, die deutlich geringer beeinträchtigt waren. „Es ist einfach ziemlich scheiße, behindert zu sein“, sagte er der Sportschau. „Wenn jemand kommt und behauptet, man macht nicht richtig mit oder man würde sich dumm anstellen und den ganzen Vorgang sabotieren, dann ist das für einen Behinderten nicht nur ein Schlag ins Gesicht, sondern eine immense Demütigung, die sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt.“ Daher wird der Ruf nach Veränderungen laut, da die Klassifizierung bisher im Ehrenamt vorgenommen wird und Athleten vermehrt die nicht zufriedenstellende Behandlung und Einstufung anprangern.

So wird auch nach diesen Paralympischen Spielen deutlich, dass auch im Sport Inklusion und Gleichheit noch immer schwierige Themen sind. Da rückt der reine Blick auf Medaillen aus deutscher Sicht in den Hintergrund. Denn im paralympischen Sport geht es um mehr als nur Gold, Silber und Bronze. Es geht in erster Linie um Anerkennung.

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