Sommerspiele Gesichter und Geschichten der Paralympics

Tischtennis mit dem Mund, Radfahren ohne Sattel, Schwimmen ohne Arme: Die Paralympics in Rio de Janeiro hatten ihre besonderen Gesichter und ungewöhnlichen Auftritte. Zudem bleiben von den Paralympics auch Momente abseits des Sports in Erinnerung.

Matt Stutzman (USA): "The Armless Archer" - der Bogenschütze ohne Arme. Der 33-Jährige wurde ohne Arme geboren. Bis 2011 hatte er von den Paralympics noch nie was gehört, bis er in Las Vegas auf einem Turnier angesprochen wurde. Den Bogen hält er mit seinem rechten Fuß. Seit Silber in London ist er ein Star. "Es ist verrückt, alle wollen ein Foto." Wegen einer Verletzung am "Schussfuß" musste er vor Rio pausieren. Er sprang aus einem Flugzeug, schoss dann einen Pfeil ab, um den Adrenalinkick im Stadion zu simulieren. An einer Medaille schoss er in Rio dennoch weit vorbei. Im kommenden Jahr will er keine Para-Events bestreiten, sondern im normalen Weltcup teilnehmen.

Hans-Peter Durst (Deutschland): Der 58-Jährige ist der Sieger ohne Sattel. Dass er das Zeitfahren gewann, obwohl er sich auf 14,5 der 15 Kilometer nicht mehr hinsetzen konnte, zählt zu wohl verrücktesten Geschichten der Rio-Paralympics. Den abgebrochenen Sattel seines Dreirades klemmte der 58-Jährige, der an Gleichgewichtsstörungen leidet, "in den Hintern ein, um eine gewisse Stabilität zu kriegen". Anschließend scherzte er: "Ich habe schon zwei Kinder. Ein neues würde diese Situation jetzt wohl nicht mehr hergeben." Zwei Tage später fuhr er im Straßenrennen zu seinem zweiten Gold. "Vielleicht war der Schmerz im Hintern noch ein treibendes Mittel."

Morteza Mehrzadselakjani (Iran): Mit 2,47 Metern ist er der größte Athlet in der Geschichte der Paralympics - und spielt Volleyball doch nur im Sitzen. Vor fünf Jahren fing der 29-Jährige mit dem Sport an. Seither änderte sich sein Leben. "Ich war allein und deprimiert. Aber der Sport hat mein Leben verändert." Ging er vorher aus dem Haus, wurde er wie ein Außerirdischer angestarrt. Jetzt will jeder ein Foto mit ihm. Mit seiner Abschlaghöhe von 1,93 Metern beim 1,15 Meter hohen Netz ist er nicht zu blocken. Aber gesundheitlich geht es dem Iraner nicht gut. Er wächst weiter, weil unentwegt Wachstumshormone ausgeschüttet werden. Mit dem Iran erreichte er das Finale.

Mariyappan Thangavelu (Indien): Der Sieg im Hochsprung ist für den in extremer Armut aufgewachsenen 21-Jährigen wie ein Jackpot. Er bekommt von der Regierung umgerechnet 99 .500 Euro. Mit seiner Mutter und zwei Geschwistern lebt er in einem Haus, das kleiner ist als sein Zimmer im Athletendorf. Auf dem Weg zur Schule überfuhr ihn einst ein Bus: sein rechtes Bein wurde unterhalb des Knies zertrümmert. Seine Mutter nahm für die Behandlungen einen Kredit auf, den sie immer noch abbezahlt. Der 1,68 Meter große Thangavelu übersprang 1,89 Meter, obwohl sein Anlauf ein einbeiniges Anhüpfen ist. Nach seinem Karriereende will er sich seinen rechten Fuß amputieren lassen.

Ibrahim Hamadtou (Ägypten): Der Tischtennis-Spieler verlor als Zehnjähriger bei einem Zugunglück beide Arme. Aber er wollte weiter spielen. Den Schläger hält der 43-Jährige mit dem Mund, genauer: mit einem künstlichen Gebiss. Denn seine Zähne fielen ihm wegen seiner Spezialtechnik aus. Den Ball wirft er mit dem rechten Fuß zum Aufschlag in die Luft. "Das Beste in meinem Leben ist meine Frau, die mir alles bedeutet. Das zweite ist Tischtennis. Das ist wie die Luft, die ich zum Atmen brauche", sagt der Familienvater. In Rio schied er bereits in der Gruppenphase aus, war aber trotzdem begeistert: "Ich bin einfach froh, dass ich hierherkommen konnte."

Tao Zheng (China): Er verlor als Kind durch einen elektrischen Schlag beide Arme. Dennoch stieg er zu einem der erfolgreichsten Schwimmer seines Landes auf. Er gewann schon in London Gold über die 100 Meter Rücken und wiederholte in Rio seinen Triumph mit neuem Weltrekord von 1:10,84 Minuten. Der 25-Jährige beißt beim Start in ein Handtuch, das ihm ein Betreuer reicht, weil er sich nicht festhalten kann. Mit einer Kombination aus Beinbewegungen wie beim Schmetterling und Freistil schwimmt er schneller als Kontrahenten mit Armen. Schon in London war er einer der Publikumslieblinge, der viele inspirierte.

Marieke Vervoort (Belgien): Vor Rio sorgte sie für Schlagzeilen, weil sie sich angeblich nach den Paralympics mittels aktiver Sterbehilfe das Leben nehmen wollte. "Wenn es in meinem Leben mehr schlechte als gute Tage gibt, dann habe ich die Sterbehilfedokumente. Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen", sagt die 37-Jährige in Brasilien. Die Rollstuhlfahrerin leidet an extremen Muskelschmerzen, fällt vor Schmerzen schreiend auch schon mal in Ohnmacht. Sie bekommt vermehrt epileptische Anfälle, sieht nur noch zu 20 Prozent. Dennoch fuhr die London-Siegerin über die 400 Meter zu Silber. "Ich hätte nicht geglaubt, dass ich diesen Moment noch erlebe."

Unerlaubter Protest: In Äthiopien toben seit Monaten Proteste gegen das autoritäre Regime des ostafrikanischen Landes. Symbol dieses Protests ist eine besondere Geste: Demonstranten kreuzen die Arme über ihrem Kopf. Der Äthiopier Tamiru Demisse läuft bei seinem 1500-Meter-Rennen mit genau dieser Geste über die Ziellinie und wird danach vom Internationalen Paralympischen Komitee verwarnt. "Wir haben ihm sehr, sehr deutlich klargemacht, dass politische Statements bei den Paralympics nicht erlaubt sind", sagt IPC-Chef Philip Craven.

Heiratsantrag: Kugelstoßer Sebastian Dietz bejubelt erst Gold im Stadion, dann steht er spätabends auf der Bühne im Deutschen Haus. "Ich muss es einfach tun, weil es die Frau ist, die ich liebe", sagt er. Seine Freundin wird auf die Bühne gebeten, eingehüllt in eine Deutschland-Fahne. Dietz holt tief Luft, eine Stimme im Hintergrund ruft: "Es tut nicht weh". Er wisse ja, sagt der teilweise gelähmte Dietz zu seiner Herzensdame, dass sie auf große Auftritte nicht stehe. Aber sie seien fast fünf Jahre zusammen. Und dann fragt er: "Möchtest Du meine Frau werden?". Sie weint, Umarmung, Jubel.

Ein Tattoo und eine besondere Liebe: Vanessa Low wurde mit 15 vor einen Regionalzug gestoßen und verlor beide Beine. Sie entdeckte das Weitspringen für sich, zog in die USA und wurde dort in Oklahoma von Roderick Green trainiert. In Rio gewinnt sie auf Prothesen mit der Weltrekordweite von 4,93 Metern Gold. Und verspricht danach, sich die Unterschrift ihres Trainers tätowieren zu lassen. "Er hat sehr viel zu meinem Leben beigetragen." Das Tattoo ist ein Dankeschön - und ein Abschiedsgruß, denn sie zieht zu ihrem Freund Scott Reardon nach Australien. Was für eine Geschichte: Reardon ist auch beinamputiert - und auch Paralympics-Sieger. Er gewinnt in Rio den 100-Meter-Sprint.

Unerwünschter Präsident: Bei der Eröffnung der Paralympischen Spiele ist Brasiliens neuer Präsident Michel Temer nicht zu verstehen, ein gellendes Pfeifkonzert erfüllt das Maracanã-Stadion. Die Anhänger der abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff sehen ihn als "Putschisten". Temer, 75, bleibt regungslos, neben ihm seine 42 Jahre jüngere Frau Marcella (33), fast einen Kopf größer. Immer wieder sind "Temer raus"-Rufe zu hören. So hat er sich den Auftritt nicht vorgestellt. Und Rousseff führt bei Twitter als Funktion weiter auf, dass sie Präsidentin Brasiliens sei - und gratuliert den Medaillengewinnern.

Falsche Fahne: Beim Einmarsch der Nationen stimmt irgendetwas nicht. Die Fahne, die der Sportfunktionär Andrej Fomotschkin am Ende der weißrussischen Mannschaft trägt und mit beiden Armen ausbreitet, ist weiß-blau-rot. Die Fahne Russlands. Ein Protest gegen den Ausschluss des russischen Bruderstaates wegen des Doping-Skandals. In Moskau und Minsk wird der Akt als Geste der Solidarität gefeiert. Fomotschkin schafft im Stadion mehrere Meter, bevor ihm Offizielle die Fahne abnehmen. Wenige Stunden nach der Eröffnung wird Fomotschkin, der das Olympia-Zentrum der weißrussischen Leichtathleten leitet, vom Internationalen Paralympischen Komitee die Akkreditierung entzogen.

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