Im Fußball-Team Der Freigeist Kruse soll bei Olympia als Führungskraft glänzen

Analyse | Tokio · Strengen Funktionären gilt Max Kruse als Skandalnudel. Ausgerechnet der Berliner Offensivspieler soll im Olympia-Team die tragende Rolle einnehmen.

Fußballprofi in der Bundesliga: Das ist Max Kruse
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Das ist Max Kruse

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Max Kruse (33) kann man allerlei nachsagen. Nicht aber, dass er ein Geheimnis um seine Meinung machen würde. Zum Beispiel zur Europa Conference League, dem neuesten Produkt aus der Geldvermehrungsmaschine des europäischen Fußballverbands Uefa. Als die Qualifikation für seinen Bundesliga-Klub Union Berlin bedrohlich nahe war, sagte Kruse: „Da hab ich keinen Bock drauf. Da können andere spielen.“ Inzwischen wird ihm sein Verein nach erreichter Qualifikation wohl eine Teilnahme ans Herz gelegt haben.

Nicht jedes Turnier steht in Kruses Gunst allerdings so weit unten wie die Europa Conference League. Beim Gedanken an die Olympischen Spiele bekommt der routinierte Fußballer leuchtende Augen wie ein kleines Kind. „Das ist ein einmaliges Erlebnis“, erklärte er, „für viele Sportler ist es das Größte, was es gibt.“ Offenbar auch für ihn, der als gestandener Herr von 33 Jahren eine der Führungsfiguren im deutschen Team sein soll, das am Donnerstag gegen den amtierenden Olympiasieger Brasilien ins Turnier startet.

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Das ist der Fußball-Kader für Olympia

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Ausgerechnet Kruse, werden traditionsbewusste Funktionäre stöhnen, denen der freigeistige Fußball-Wandervogel (acht Vereine in 14 Jahren) schon immer ein Dorn im streng blickenden Auge war. Sie erinnern sich nämlich weniger an sportliche Glanztaten, sondern mehr an außersportliche Aktivitäten des Spielers.

Mit verständnislosem Grausen erzählen sie sich, dass Kruse schon seit 2014 die Sommerpausen zur regelmäßigen Teilnahme an Pokerturnieren nutzt. Dass er über gewisse Fähigkeiten am Kartentisch verfügt, die ihm Einnahmen von immerhin 130.000 US-Dollar eingetragen haben, finden die Gesinnungswächter allenfalls verdächtig. Deshalb halten sie zwei Vorkommnisse aus den Jahren 2015 und 2016 für logische Folgen einer nicht gerade professionellen Einstellung zum Fußball. Einmal kamen Kruse in einem Berliner Taxi stolze 75.000 Euro abhanden. Ein anderes Mal leistete er sich in einer (wohl gemerkt) privaten Feier eine gröbere Auseinandersetzung mit einer von der „Bild-Zeitung“ eingeschleusten Fotografin. Überflüssig zu erwähnen, dass diese Auseinandersetzung anschließend auf dem Boulevard genüsslich ausgeschlachtet wurde.

Kruse kassierte eine öffentliche Ermahnung und eine deftige Geldstrafe bei seinem Verein VfL Wolfsburg. Bundestrainer Joachim Löw stellte empört fest, er wolle „Spieler, die sich auf den Fußball konzentrieren – auf und neben dem Platz“, und strich ihn aus dem Aufgebot für die EM-Vorbereitung. Kruses Nationalmannschafts-Karriere war nach 14 Spielen zu Ende. Dass Löw zweierlei Maß anlegte, als er die führerscheinfreien Fahrten von Marco Reus gnädig übersah, war seinerzeit allenfalls eine Fußnote.

Kruse darf sich zugutehalten, dass er den vielen Skeptikern zumindest seither bewiesen hat, dass er mehr kann, als die Zeitungen mit den großen Buchstaben mit Schlagzeilen zu verwöhnen. Spätestens mit seiner Rückkehr zu Werder Bremen 2016 wurde er auf dem Rasen zum Inbegriff des klugen Spielers, der Entwicklungen vorausahnt, mit seinen Pässen Räume eröffnet und seine Mannschaften auf ein jeweils neues Niveau führt – wenn sie sich denn völlig auf ihn einlassen.

Das haben seine Teams seither getan. Bremen operierte er mit Fußballkunst aus dem Abstiegskampf, bei Fenerbahce Istanbul setzte er sich in einem schwierigen Umfeld durch, Union Berlin hat durch ihn ganz neue fußballerische Qualitäten gewonnen.

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Auf Kruses außergewöhnliche Fertigkeiten setzt auch Olympia-Coach Stefan Kuntz, der ohnehin weniger Probleme mit den vergleichsweise schwierigen Typen hat. Kruse hat sich für die Nominierung schon mal mit kämpferischen Botschaften bedankt. Dass Deutschland mit einem ausgedünnten Aufgebot nach Tokio geflogen ist, weil so mancher Klub seine kostbaren Spieler in der Saisonvorbereitung nicht freigeben will oder weil so mancher kostbare Spieler sich in der Saisonvorbereitung lieber auf seinen Klub konzentriert, stört den Wahl-Berliner nicht. „Solange wir elf Leute auf den Platz kriegen, werden wir alles versuchen, die Goldmedaille nach Deutschland zu holen“, betonte Kruse.

Da muss er sich keine Sorgen machen, denn elf Mann werden es sicher sein, auf die Kuntz in den Gruppenspielen gegen Brasilien, Saudi-Arabien und die Elfenbeinküste zurückgreifen kann. Und der Trainer muss seinerseits nicht befürchten, dass Kruse mit den Gedanken etwa nicht beim Fußball sein sollte, was Löw so umtrieb. Nicht einmal am Prämien-Verhandlungstisch hielt sich der Pokerprofi lange auf. „Gold“, sagte er nach einem kurzen Gespräch zwischen Team-Delegation und Verband, „ist viel mehr wert als Geld.“ Er ist eben ein Mann der klaren Worte.

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