„Gläserne Tournee“ Nichts ist mehr wie früher

Bischofshofen (dpa). Skispringer sind Frühaufsteher. Mitten in der Nacht ging es für die deutschen Weitenjäger am Freitag aus den Federn, um sieben Uhr startete bereits der Flieger von Salzburg nach Zürich. Dann ging es weiter mit dem Auto nach Engelberg, wo auf der Großen Titlis-Schanze am Nachmittag Training auf dem Programm stand.

Die Flugschau muss weitergehen - am Samstag und Sonntag gastiert der Weltcup-Zirkus in der Schweiz. Erst nach Engelberg billigt der dicht gedrängte Terminplan mit 32 Wettbewerben, darunter sechs im Skifliegen, den „Königen der Lüfte“ eine einwöchige Pause zu. Dann gehen die Strapazen aber richtig los, denn der Tross fliegt nach Japan und in die USA.

Weniger der Reise-Stress als vielmehr das Umfeld machte den Deutschen bei der Vierschanzentournee schwer zu schaffen. „Wir müssen künftig die Hotels wechseln. Es kann nicht sein, dass wir immer neben der Straße sitzen“, bemängelte Reinhard Heß den permanenten Zugang der Öffentlichkeit im Team-Quartier. Beim Versuch, seine Springer zu Präsentieren und zugleich die nötige Wettkampf-Ruhe zu bieten, dreht er sich im Kreis. Er wolle zwar Sportler zum Anfassen, aber nicht zum ständigen Händchenhalten.

Boygroup im Schnee“ radikal abschirmen„An alles kann man sich nicht gewöhnen“, erklärte der Bundestrainer. Deshalb trägt er sich mit dem Gedanken, notfalls seine „Boygroup im Schnee“ (Werbeslogan) radikal abzuschirmen - wie es bei anderen Sportstars wie Michael Schumacher oder bei der Fußball- Nationalmannschaft längst üblich ist.

Dem 54 Jahre alte Heß ist bei der Tournee bewusst geworden, dass er „nicht mehr alle Fäden in der Hand hält“. Darüber sei er etwas deprimiert und das bedürfe einer Analyse. „Ich werde nicht mehr über alles gefragt“, gab der Thüringer zu. Beispielsweise wurde der Bundestrainer in Innsbruck von der Präsentation des neuen Sponsors von Martin Schmitt überrascht. Mit dem Einzug des Kommerzfernsehens habe dies jedoch nichts zu tun, stellte Heß ausdrücklich fest. „RTL fragt immer dezent an“, erläuterte der Trainer, der wie Schmitt und Hannawald vertraglich an den Kölner Sender gebunden ist. Ohnehin will Heß das „Rad der Geschichte nicht zurückdrehen“: Immerhin zahlt sich auch für die Trainer die Werbung aus.

Überrascht wurden Heß, seine Springer und die ehrenamtlich strukturierten Veranstalter-Vereine und -Orte auch von der neuen Dimension, in der sich das Skispringen hineinkatapultierte. „Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass jeder Wettkampf hier eine Weltmeisterschaft ist“, gab der Trainer zu. Man sei immer im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die stets laufende Kamera ist immer dabei, der Preis der Kommerzialisierung ist eine „gläserne Tournee“. „Zu einem guten Sprung gehört immer auch ein schwacher. Doch den dürfen die Athleten nicht mehr machen“, klagte Heß. Er ist Realist, um zu wissen: „Damit müssen die Springer jetzt leben, das wird sich nicht ändern.“

Schmitt freut sich auf EngelbergOder doch? Schmitt freute sich sehnsüchtig auf Engelberg. „Dort wird nicht so viel Rummel sein“, sagte der 21-Jährige, der aufpassen muss, dass ihm Andreas Widhölzl nach dem Tourneesieg nicht auch das Gelbe Trikot des Weltcup-Führenden wegschnappt. Denn auch der als „Mister Cool“ apostrophierte Luftikus wurde vom Mega-Rummel um ihn fast umgeblasen. „Der ewig lächelnde Martin Schmitt sieht innen ganz anders aus“, konstatierte Heß. Auch in Japan und den USA werde es ruhiger, meinte der Schwarzwälder, der hofft, dass bis zur 49. Tournee gravierende organisatorische Mängel abgestellt werden, damit bei der Massenbewegung die Sicherheit der Springer, aber auch der kleinen Fans, gewährleistet ist.

Auch sportlich hat Heß in seiner Bilanz des Saisonhöhepunktes nicht nur Aktivposten. Schmitt habe die Tournee gewinnen wollen, sei aber an einem „überragenden“ Widhölzl gescheitert. Dafür bewies Sven Hannawald, dass er auf dem besten Rückweg zum Siegspringer ist. „Zwei unter den ersten Sechs“ - diese Trainer-Vorgabe wurde erfüllt. Sorgen macht dem Bundestrainer der Anschlusskader. Immerhin gilt es, bei der WM 2001 in Lahti den Mannschafts-Titel zu verteidigen. Deshalb hätte es der Trainer gern, dass „konstant vier bis fünf unter die besten 15“ springen. Doch davon sind die DSV-Adler weit entfernt. Bei Christof Duffner sprach Heß sogar von „Trauerspiel und Tierquälerei“.

(RPO Archiv)
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