Leichtathletik-EM 2018 „Ich würde auch für Harting den Ring wischen“

Düsseldorf · Ihren ersten EM-Titel im Weitsprung gewinnt Heike Drechsler 1986 in Stuttgart. Mit 21. Ihren ersten EM-Einsatz als Kampfrichterin hat die zweimalige Olympiasiegerin 2018 in Berlin. Mit 53. Ein Interview über neue Aufgaben, große Erfolge und schmerzliche Lehren.

 Heike Drechsler harkt am 5. August 2017 bei den Deutschen Leichtathletik Jugendmeisterschaften in Ulm (Baden-Württemberg) Sand in der Weitsprunggrube.

Heike Drechsler harkt am 5. August 2017 bei den Deutschen Leichtathletik Jugendmeisterschaften in Ulm (Baden-Württemberg) Sand in der Weitsprunggrube.

Foto: picture alliance / Stefan Puchne/Stefan Puchner

Viele Top-Athleten bleiben ihrem Sport nach dem Ende der eigenen Karriere erhalten – als Trainer, Manager, Journalisten. Heike Drechsler, die zweimalige Olympiasiegerin im Weitsprung, findet bei der anstehenden Leichtathletik-EM in Berlin (6. bis 12. August) in besonderer Rolle zurück ins Rampenlicht ihres Sports: als Kampfrichterin. Im Interview spricht die 53-Jährige über diese neue Aufgabe, ihre großen Erfolge und die Lehren aus der Vergangenheit als DDR-Sportlerin.

Frau Drechsler, es sind noch wenige Tage bis zur EM vor Ihrer Haustür. Haben Sie Lampenfieber?

Heike Drechsler: Ein wenig Herzklopfen schon, wenn ich daran denke. Vor allem freue ich mich darauf, eine große Meisterschaft aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Und mal wieder ganz nah am Puls der Athleten zu sein.

Was wird Ihre Aufgabe sein?

Drechsler: Eine vergleichsweise einfache: Den Sand glattzuziehen. Aber auch das ist körperlich anstrengend, wenn man es stundenlang macht.

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Sie könnten während dieser Zeit auch im VIP-Bereich sitzen – einfach genießen und entspannen …

Drechsler: Ja. Aber es ist schön, etwas an der Basis zu tun. Ich möchte dabeisein, ich möchte helfen, ich möchte auch etwas zurückgeben. Und ich will die Sportart fühlen.

Wie kamen Sie auf die Idee?

Drechsler: Weil ich seit Anfang 2017 in Berlin wohne, hatte ich dem Deutschen Leichtathletik-Verband signalisiert, zum Gelingen der EM beitragen zu wollen. Im Gedankenaustausch mit EM-Organisationschef Frank Kowalski rutschte mir spontan der Satz raus: Setzt mich doch als Kampfrichterin ein.

Und das war so einfach möglich?

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Drechsler: Auch wenn ich mir zunächst keine tiefgründigen Gedanken gemacht hatte, war mir klar, dass ohne eine gründliche Vorbereitung nichts geht.

Das bedeutete?

Drechsler: Den Kampfrichterschein zu machen – zwei Wochenenden Ausbildung plus Praxis. 2017 in Ulm bei der Senioren-DM habe ich acht Stunden in der Sommerhitze an der Grube gestanden und Sand geharkt – das war schon extrem.

Wie haben die Kampfrichter auf Ihre prominente Kollegin reagiert?

Drechsler: Es war klar, dass ich nicht von allen mit offenen Armen empfangen werden würde. Einige dachten, das sei bloß ein PR-Gag. Deshalb gab es auch vereinzelt kritische Stimmen. Und Konkurrenzdenken gibt es unter Kampfrichtern auch.

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Wie haben Sie die EM-Nominierung geschafft?

Drechsler: Ich wusste, es geht nur über die Ausbildung. Also habe ich die erforderlichen Schulungen gemacht. Inzwischen hatte ich meine Einsätze und es ist akzeptiert. Weil die Kollegen gesehen haben, dass ich arbeiten kann. Dass ich nicht einfach daherkomme und sage: Ich möchte aber die rote und die weiße Fahne schwenken – das ist Aufgabe des sogenannten Obmanns. In der Hierarchie bin ich unten angesiedelt. Ich hätte auch kein Problem damit, für Robert Harting den Diskusring trocken zu wischen, wenn es regnet. Ich bin mir für nichts zu schade.

Stehen Sie nur für den Frauen-Weitsprung auf dem EM-Dienstplan?

Drechsler: Nein, wir sind ein Team, das für alle horizontalen Sprünge vorgesehen ist, also auch für den Dreisprung und die Mehrkämpfe, bei Frauen und bei Männern – das bedeutet eine volle Arbeitswoche lang harken, harken und nochmal harken.

Die WM 2009 in Berlin lebte von einer großartigen Stimmung – erwarten Sie nun Ähnliches bei der EM?

Drechsler: Ich hoffe und wünsche es allen Athleten. Wichtig ist, dass an den ersten Tagen über die Leistungen so richtig Rummel entsteht, damit das Stadion am Wochenende ausverkauft ist.

Der Kartenvorverkauf läuft gut – insgesamt wurden bereits mehr als 250.000 Tickets abgesetzt.

Drechsler: Na also. Das zeigt doch, dass die Leichtathletik nach wie vor geliebt wird. Sie ist nicht tot, auch wenn sie von den Medien weniger wahrgenommen wird als früher.

Welche Glanzlichter 
erwarten Sie?

Drechsler: Der Speerwurf mit Olympiasieger Thomas Röhler, Weltmeister Johannes Vetter und Andreas Hofmann, die in der Jahresweltbestliste die ersten drei Plätze belegen, zählt aus deutscher Sicht dazu. Starke Frauen haben wir im Sprint: Gina Lückenkemper und die Staffel zählen zu den Titelaspiranten, dann Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz und Hindernisläuferin Gesa Krause – das werden tolle Rennen.

Und worauf freuen Sie sich am meisten?

Drechsler: Ist doch klar: Auf den Weitsprung der Frauen mit Malaiko Mihambo. Sie ist aktuell die beste Deutsche, hat großes Entwicklungspotenzial, ist ein Fighter – mit dem nötigen Selbstbewusstsein wird sie eine Medaille machen.

Mit 6,99 Meter steht Mihambo 2018 an Position zwei der Weltrangliste. Erinnert Sie diese Weite an etwas?

Drechsler: Klar. Meine Siegweite von Sydney.

Damals lag Ihr WM-Sieg von Helsinki bereits 17 Jahre zurück. Wie war Ihr zweiter Olympiasieg im Jahr 2000 möglich?

Drechsler: Dank meiner Gelassenheit und großen Erfahrung. Ich war 35, hatte schon alle Titel gewonnen und wollte nichts mit Gewalt. Das Wichtigste war mir damals, gesund zu sein und durchzukommen.

Sie durchkreuzten die Pläne der später des Dopings überführten US-Amerikanerin Marion Jones, fünf Goldmedaillen zu gewinnen.

Drechsler: Jones war eine reine Sprinterin, keine Technikerin. Wenn sie den Balken getroffen hätte, wäre der explodiert.

Wie empfanden Sie Sydney in Relation zu den Spielen zuvor?

Drechsler: Die Atmosphäre vor 110.000 Zuschauern war einmalig, es waren für mich die schönsten Spiele. Seoul 1988 empfand ich als Arbeiterspiele, weil ich inklusive Sprints und Staffel zehnmal an den Start musste. Barcelona 1992 – das waren Druckspiele, ich wollte unbedingt gewinnen. Und 2000 – das waren Genussspiele. Das Drumherum war mir viel bewusster, weil mir klar war, es ist das letzte Mal, dass ich an Olympia teilnehme.

Ihre Karriere war unglaublich intensiv. 1983 mit 18 wurden Sie Weltmeisterin, waren Sportheldin der DDR. Dann kam die Wende – und Ihr Olympiasieg für das vereinte Deutschland. Mit welchem Empfinden schauen Sie auf diese wechselvollen Jahre zurück und wie sehen Sie die Schattenseiten des DDR-Sports drei Jahrzehnte später?

Drechsler: Ich bin dankbar dafür, dass ich beide Seiten so intensiv erleben durfte. Mit dem Abstand betrachtet haben diese kolossalen Veränderungen meine Persönlichkeit geprägt. Sie haben meinen Blickwinkel auf die Dinge verändert, mir eine feste Meinung vermittelt aus der Erfahrung, die ich mitgenommen habe. Ich habe eine kritische Distanz zu dem Geschehenen entwickelt, habe Klarheit gewonnen.

Sie meinen damit das Thema Leistungsmanipulation. Wie ist Ihre Einstellung im Jahr 2018?

Drechsler: Der Leistungssport steckt in einer anderen Epoche, und es ist gut, dass man die Dinge hinterfragt. Die Probleme waren damals wie heute von Menschen gemacht und es ist wichtig, dass eine Öffentlichkeit da ist, die auf Aufklärung drängt.

Für Sie war der Umgang damit sicher nicht einfach.

Drechsler: Ich war in manchen Situationen alleine und musste damit klarkommen. Aber es ist gut, wie es jetzt ist. Dass hinterfragt wird und eine Idee entsteht, wie der Sport sich in Zukunft entwickeln soll.

Nach welchen Grundsätzen?

Drechsler: Wir wollen sauberen Sport. Es gibt Regeln und es ist wichtig, dass sie eingehalten werden. Ohne Kontrollsystem geht das nicht.

Sie wirken sehr im Reinen mit sich.

Drechsler: Ich bin mit mir im Reinen. Ich habe auf den Tisch gelegt, was zu erzählen war. Ich schaue nach vorne. Je mehr Abstand man zu den Dingen hat, desto mehr verändern sich auch die Sichtweisen. Ich weiß einfach mehr, ganz anders als in den 80ern als Teenager.

Welche Botschaft ist Ihnen wichtig?

Drechsler: Die Leute dürfen keine Angst haben, ihre Kinder zum Sport zu schicken. Weil Sport etwas Tolles ist, das neben der Gesundheit die Persönlichkeit formt.

Als Kampfrichterin wollen Sie nun etwas zurückgeben, warum nicht auch als Trainerin?

Drechsler: Ich habe es tatsächlich im Hinterkopf, mich im Nachwuchsbereich einzubringen. Die Leistungssportreform zielt auf die Spitze, aber ich bin der Meinung, dass es an Trainern für Jugendliche fehlt. Wenn wir an der Basis keine guten Trainer haben, die Techniken vermitteln, dann haben wir in Zukunft ein Problem.

Sie wirken sehr gesund und fit. Welchen Sport machen Sie 2018?

Drechsler: Durch meine berufliche Tätigkeit in der Präventionsarbeit der Barmer bin ich immer in Aktion. Ich begleite die Frauenlauf-Städtetour – unter anderem in Berlin, Köln und München. Ich bin nicht nur da, um den Startschuss zu geben. Vorher leite ich Workshops – und renne auch mit. Das sind meist Strecken von fünf Kilometern. Ich schaue dann immer, dass ich so 25 Minuten laufe, dann geht es mir gut.

Sie genießen große Wertschätzung im Internationalen Olympischen Komitee. Sehen wir Sie in Ihrer neuen Rolle als Kampfrichterin vielleicht auch 2020 bei den Spielen in Tokio?

Drechsler: Das wäre was. Aber das geht nur Schritt für Schritt. Außerdem gibt es viele, die diesen Traum haben. Aber vielleicht wird es ja auch meiner.

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