Warum laufen wir Marathon? Wer läuft, hat recht

Düsseldorf · Die Saison der Marathonläufe hat hierzulande wieder begonnen - am Wochenende unter anderem mit Wettkämpfen in Düsseldorf und Hamburg. Warum macht man das eigentlich? Beantworten kann man diese Frage nur mit Laufen.

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Die schönsten Bilder vom Marathon

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Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Die denkbar häufigste Frage während eines Marathonlaufs ist die denkbar kürzeste: Warum? Wie seinerzeit auf der endlos langen und hässlich breiten Museumsmeile in Bonn, die man gleich zweimal laufen muss. Es waren damals noch ein paar Kilometer zum Ziel, als in unserer Gruppe diese Frage kursierte, lauter und lauter wurde, drängender auch, und schließlich ohne Antwort blieb. Also sind wir weitergelaufen, immer den blöden Farbmarkierungen nach. Der größte Gegner beim Marathon ist die eigene Psyche. Und an diesem Wochenende lauert er wieder tausendfach: in Hamburg, Dresden und eben auch am Sonntag in Düsseldorf. Mehr als 30 Marathonläufe im deutschsprachigen Raum gibt es - allein im April. Im gesamten Jahr 2018 werden es rund 230 sein.

Die Frage nach dem Warum? ist durchaus ernst, aber nie ernst gemeint. Weil der, der läuft, die Frage lange schon für sich beantwortet hat. In den Monaten des Trainings nämlich, an die ja keiner denkt, der nur am Straßenrand steht und aufmunternd "Quäl dich, du Sau" ruft. Wer im Frühjahr antritt, hat den ganzen Winter trainiert. 60, 70, 80 Kilometer pro Woche. Und wer auch in dieser Zeit ein soziales Wesen bleiben will, läuft darum oft morgens weit vor Sonnenaufgang und abends nach Sonnenuntergang. Diese Läufer trifft man dann stumm, in sich gekehrt und mit Herzfrequenzmesser um sechs etwa auf der Düsseldorfer Rhein-Kniebrücke. Drei Stunden später kommen die Jogger.

Das ist kein Lästern, sondern die brutale Wahrheit in unserer mobilen Gesellschaft. Läufer und Jogger sind unterschiedliche Spezies. Der Läufer hat immer ein Ziel vor Augen, den Wettkampf, die Geschwindigkeit, die Ernährung und die Ausrüstung. Der Jogger will eigentlich nur ein bisschen fit bleiben. Klingt hart, ist aber so. Es ist die Grundhaltung, die einen Läufer zum Läufer macht. Wer einmal ein Läufer ist, bleibt auch dann ein Läufer, wenn er nur noch joggt.

Na, vielleicht ist das jetzt ein bisschen zu heroisch erzählt. Doch darf man auch nicht zu klein reden über das, worum es geht: um die sogenannte Königsdisziplin des Laufens, die ihrem Namen übrigens auf ulkige Weise alle Ehre macht. Denn die heutige Länge ergab sich erst bei den Olympischen Spielen in London 1908, als die 41,8 Kilometer lange Strecke von Windsor Castle ins Stadion um 352 Meter verlängert wurde - damit die Ziellinie exakt vor der Königsloge eingezeichnet werden konnte. Wahrscheinlich finden sich seither unter den Läufern überdurchschnittlich viele Monarchiefeinde.

Es gibt immer wieder wortreiche, manchmal auch geistreiche Versuche, das lange Laufen irgendwie mit Philosophie in Einklang zu bringen, was mehr oder weniger Blödsinn ist. Der Versuch, Nietzsches Willen zur Macht in der vehementen Fokussierung des Läufers aufs Ziel wiederzuerkennen, ist bestenfalls originell.

Dennoch, jeder Läufer durchlebt in der ellenlangen Vorbereitung und dem vergleichsweise kurzen Wettkampf ein intensiveres Leben. Es geht darum, Widerstände zu überwinden, mit Schmerzen umzugehen, verborgene Reserven zu entdecken, das Leben zu bejahen und - klar doch: Wut und Depressionen zu bezwingen. Er kenne kein Leid, das eine Stunde Laufen nicht heilen könne, hat Regisseur, Oscar-Preisträger und Langstreckenläufer Volker Schlöndorff einmal behauptet.

Für manche ist langes Laufen eine Art Ersatzreligion mit der Tendenz zum Fetischismus. So werden eifrig die Startnummern gesammelt und die Medaillen, Leistungskurven und die Ergebnisse der Laktattests. Für andere ist es die pure Meditation mit kostbaren Momenten wie diesen: "Beim Laufen muss ich mit niemandem reden und niemandem zuhören. Ich brauche nur auf die vorüberziehende Landschaft zu schauen." Das hat der ewige Literaturnobelpreiskandidat Haruki Murakami einmal geschrieben, in seinem Buch übers Laufen.

Einen Marathon zu meistern - und das heißt immer noch, gescheit anzukommen - ist nichts Heldenhaftes. Es hat etwas mit größtmöglicher Verantwortung für sich selbst zu tun. Mit Disziplin also und der genauen Kenntnis, was man sich zumuten kann. Wer läuft, ist auf sich allein gestellt, ganz egal, ob beim frühmorgendlichen Training oder im Wettkampf. Die US-amerikanische Philosophieprofessorin Heather L. Reid hat das Verhalten des Läufers anthropologisch so beschrieben: Da entfernt sich einer von der Herde. Das ist ohne den Verlust an Sicherheit und Geborgenheit nicht zu haben. Aber in dieser Haltung steckt eben auch der große Gewinn an Freiheit.

Die alte Mär, der Weg sei das Ziel, klingt gut. Mehr nicht. Denn beim Marathon ist das Ziel das Ziel. Es ist der kleine Triumph, der Sieg, die Entschädigung für alle Schmerzen. Auch darum verdient das Ziel jede Inszenierung: mit dem Einlauf ins Münchner Olympiastadion, der Zielgeraden durchs Brandenburger Tor, der Ankunft am Düsseldorfer Rheinufer. Pures Glück im Meer der Endorphine. Seelenruhe. Freudentummel und Erzählstoff für die nächsten drei Monate. In diesem Moment wird unwiderlegbar: Wer läuft, hat recht.

(los)
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