Bach und IOC am Pranger Stürzt „Tag der Schande“ den Weltsport ins Chaos?

Düsseldorf · Das IOC hat empfohlen, russische und belarussische Athleten und Athletinnen in den Weltsport zurückkehren zu lassen. Die Politik im Westen reagiert wütend und entsetzt. Der Sport zweifelt an der Umsetzung der Sanktionen.

Reaktionen zur IOC-Entscheidung​
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Foto: AFP/FABRICE COFFRINI

„Verheerendes Signal“, „Verhöhnung der Toten“ - und der Weltsport vor dem Sturz ins Chaos? Thomas Bach hatte mit Gegenwind gerechnet, doch was am Morgen nach dem „Tag der Schande“ auf ihn einprasselte, sucht auch in der Ära des umstrittenen Sportfunktionärs aus Würzburg seinesgleichen. Politiker, Medien und Sportler aus den westlich geprägten Teilen der Welt reagierten mit Wut und Entsetzen auf die IOC-Entscheidung in der Russland-Frage. Die Zeitung USA Today verlieh Bachs IOC die „Goldmedaille für Feigheit und Heuchelei“.

Athletenvertreter Maximilian Klein hält die Wiederzulassung der russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportler selbst unter den vom IOC definierten Bedingungen für falsch. „Wenn ein Aggressor, der einen Staat überfällt, Teil dieser Bewegung bleiben darf, obwohl diese sich für Frieden einsetzt, dann ist das Hohn und Spott für die Opfer dieses Krieges“, sagt Klein im SID-Interview: „Es betrifft auch die ukrainischen Athleten, die im Bombenhagel sterben, deren Sportstätten zerstört werden und die kämpfen müssen.“

Olga Charlan, als Fechterin ein Star in ihrer Heimat, ist am Boden zerstört. „Alle reden von den Russen. Die haben alles. Training in den besten Hallen, in ihren Riesenpalästen in Russland. Ein friedliches Leben im Familienkreis“, sagte die Olympiasiegerin der FAZ: „Bei ihnen geht es um die Möglichkeit anzutreten. Bei uns geht es ums Überleben.“

Doch auch in Russland rief die IOC-Entscheidung Kritik hervor. Über „Diskriminierung“ beschwerte sich Stanislaw Posdnjakow, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees Russlands, im Staatsfernsehen und nannte Bachs Beschluss eine „Farce“.

Zur selbigen könnten viele Sportwettkämpfe verkommen, auch die Olympischen Spiele in Paris. Das Beispiel Charlan und der ukrainischen Fechter, die den sportlichen Vertretern des Aggressors im Weltcup und der Olympia-Qualifikation gewichen sind, weist den Weg, den das IOC mit seiner Entscheidung pro Russland beschritten hat: „Es kann sein, dass die eigentlichen Opfer boykottieren, und dass sie zum Rückzug gezwungen werden“, sagt Klein.

Boykott. Das böse Wort. Eines, das beim IOC niemand hören mag. Bislang deutet allerdings auch (noch) wenig darauf hin, dass sich westliche Staaten einem durchaus möglichen Rückzug ukrainischer Sportler anschließen könnten. Einen deutschen Boykott schließt DOSB-Chef Thomas Weikert „aus grundsätzlichen Erwägungen aus“. Bis zu den Olympischen Spielen im kommenden Jahr hofft er offenbar auf die Einsicht der Verbände. Es sei schließlich, so Weikert in den ARD-Tagesthemen, eine „Empfehlung“ und „noch keine Entscheidung“.

Schärfere Töne schlägt die Politik an. Vertreter verschiedener Parteien und Länder verurteilten die IOC-Linie und forderten vehement, den Ausschluss der kriegstreibenden Nationen aus dem Weltsport aufrechtzuerhalten. Die „Wiederzulassung“ sei „eine Verhöhnung der über 220 toten ukrainischen Trainer, Athletinnen und Athleten. Zum Wohl, Herr Bach“, schrieb Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) bei Twitter. Polens Außenminister Piotr Wawrzyk nannte den Mittwoch einen „Tag der Schande für das IOC“.

Die empfohlenen Schritte mögen auf dem Papier gut aussehen, das IOC hat klare Neutralitätskriterien definiert und sie vor allem geschärft - begrüßenswert. Doch die Zweifel an deren Umsetzung sind massiv. Athletenvertreter Klein spricht von Empfehlungen, die von den Weltverbänden übergangen werden können. „So entsteht organisierte Verantwortungslosigkeit, wie wir das auch schon im russischen Staatsdoping-Skandal beobachtet haben.“ Zudem sei „völlig unklar, was passiert, wenn russische auf ukrainische Athleten treffen“. Der neutrale Status schütze Russen und Belarussen nicht davor, „dass die Individualathleten von dritter Seite für Kriegspropaganda instrumentalisiert werden“.

Auch in vielen Medien - vor allem in Europa und den USA - hinterließ die Entscheidung des IOC Wut, Entsetzen und Zweifel. Besonders hart ging die italienische Presse mit dem Sport-Weltverband und dessen Präsidenten ins Gericht. „Pontius Pilatus ist ein Dilettant im Vergleich zu Bach“, schrieb das Mailänder Boulevard-Blatt Il Giornale und fällte ein eindeutiges Urteil: „Der westliche Boykott steht vor der Tür.“

Zur Ultima Ratio wird es wohl nicht kommen. Dennoch stehen Thomas Bach, seinem IOC und dem gesamten Weltsport stürmische Wochen und Monate bevor.

(sid/stja)
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