Mario Thevis "Ich warne vor Doping-Generalverdacht"

Der Kölner Professor für Biochemie gehört zu den Wissenschaftlern, die bei den Olympischen Winterspielen die Analysen vornehmen. Ein Gespräch über Sotschi, Usain Bolt und Gendoping.

Bei einem Kongress in Sydney haben Sie gerade gesagt, dass 20 Prozent der Athleten gedopt sind.

Thevis Stopp! Ich habe gesagt, dass es Umfragen gibt, von denen einige besagen, dass 20 Prozent der Athleten dopen. Das ist ein Unterschied.

Wie ist denn Ihre Annahme?

Thevis Ich bin als Naturwissenschaftler in der komfortablen Lage, keine Annahmen tätigen zu müssen. Wir haben naturwissenschaftliche, belastbare Daten, auf die wir uns beziehen. Wenn Wissenschaftler anderer Sparten psychologisch-sozialwissenschaftliche Untersuchungen machen und solche Prozentzahlen veröffentlichen, nehmen wir das zur Kenntnis. Unsere Daten geben deutlich geringere Zahlen her.

Ihr Mainzer Kollege Perikles Simon hat vor den Olympischen Sommerspielen 2012 in London gesagt, 60 Prozent der Teilnehmer seien gedopt.

Thevis Ich kenne seine Studie nicht im Detail. Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen: Die ein bis zwei Prozent, die wir hier ermitteln, liegen wohl unter dem tatsächlichen Wert. Wohin das nach oben geht, ist von unserer Position aus sehr schwer zu beurteilen.

In Sotschi werden deutlich mehr Wettkampfkontrollen vorgenommen als 2010 in Vancouver. Ist das gut, oder ist das Aktionismus?

Thevis Es ist zwar richtig, dass die meisten Verstöße außerhalb der Wettkämpfe stattfinden, aber es gibt auch zahlreiche Präparate, die in der Wettkampfphase eine Rolle spielen, insbesondere zur Regeneration. Die Eishockeyspieler müssen zum Beispiel alle paar Tage aufs Eis, und die Skilangläufer bestreiten in der Regel auch mehrere Rennen. Da ist die Erholung von großer Bedeutung. Dass die Regenerationsfähigkeit pharmakologisch beschleunigt werden kann, ist bewiesen. Geständige Athleten haben davon berichtet, dass sie zu solchen Zwecken etwa Testosteron oder Wachstumshormon einsetzen. Da geht es nicht darum, Muskelmasse aufzubauen oder die Zahl der im Ausdauersport wichtigen roten Blutkörperchen zu erhöhen, sondern es geht darum, die Abbaurate zu verringern und schneller zu regenerieren.

Das gilt auch für Biathlon, wo die Sportler inklusive Mixed-Staffel bis zu sechs Wettkämpfe bestreiten.

Thevis Ja, dort besteht unter anderem die Notwendigkeit, auf eben diese Präparate zu testen. Derzeit werden die eingefrorenen Proben der Winterspiele 2006 in Turin mit neuen Methoden analysiert. Bis Jahresende sollen die Ergebnisse vorliegen.

Die deutsche Mannschaft war dort die Nummer eins im Medaillenspiegel ...

Thevis Es wäre nicht korrekt, bei den Nachproben eine länderspezifische Auswahl zu treffen. Von daher ist es richtig, grundsätzlich noch einmal genauer hineinzuschauen. Die neuen Methoden, die wir jetzt haben, hatten wir im vergangenen Jahr noch nicht. Nach dem neuen Kodex der Welt-Anti-Doping Agentur Wada sollen die Proben ab 2015 sogar für zehn Jahre aufgehoben werden. Je länger diese Frist ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass bessere Methoden entwickelt werden.

Wer nimmt die Analysen bei den Winterspielen in Sotschi vor?

Thevis Die Proben bleiben in Sotschi und werden vor Ort gemessen. Rund 20 internationale Experten — darunter eine Delegation aus Köln — gehören zum Team. Das Labor ist technisch erstklassig ausgestattet. Russland hatte zuletzt viele Positivfälle zu melden.

Sehen Sie die Gefahr, dass unter dem Erfolgsdruck der Olympischen Heimspiele nicht so genau hingeguckt wird?

Thevis Allein die Tatsache, dass das Labor in Moskau die Befunde ermittelt hat, zeigt, dass dort nach den Regeln der Kunst gearbeitet und nichts verheimlicht wird. Zudem sorgen die 20 externen Experten für Transparenz. Sie werden an maßgeblichen Stellen, etwa als stellvertretender Laborleiter eingesetzt.

Der Sportsoziologe Eike Emrich sieht einen dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust des Sports. Sie auch?

Thevis Als Konsument von Sport im Fernsehen und im Stadion hat sich bei mir ein gewisser Verlust von Naivität eingestellt. Insbesondere nach den vielen Geständnissen und Funden hege ich mehr Zweifel als früher.

Hat der Fall der Sprinter Tyson Gay und Asafa Powell, die im Sommer überführt wurden, die Glaubwürdigkeit in besonderer Weise erschüttert?

Thevis Ich würde von einem Generalverdacht Abstand nehmen. Das ist nicht gut und insbesondere für den Nachwuchs fatal, der nie mit verbotenen Mitteln und Methoden in Kontakt gekommen ist. Entweder ich nehme jungen Sportlern damit die Motivation ihrem Sport weiterhin nachzugehen, oder sie sagen sich: Wenn ich ohnehin verdächtigt werde, kann ich es auch machen. Die Natur hat auch manchen Menschen ein Talent mitgegeben, dass sie in bestimmten Sportarten besonders gut werden lässt. Nur weil ein Basketballer 2,20 Meter groß ist, unterstellt man ihm nicht, dass er Wachstumshormon genommen hat. Er ist einfach von Natur aus so groß. Warum soll das nicht auch in anderen Sportarten so sein?

Zum Beispiel?

Thevis Nehmen wir den Skilangläufer Eero Mäntyranta, der aufgrund eines genetischen Defekts eine besonders hohe Sauerstofftransportkapazität hatte und deshalb extrem ausdauerleistungsfähig war. Zwischen 1960 und 1968 gewann er sieben olympische Medaillen, davon drei goldene. Ihm Blutdoping zu unterstellen, wäre falsch. (Anm. d. Red.: In der Spätphase seiner Karriere verheimlichte der finnische Verband allerdings den Nachweis der Einnahme von Amphetaminen).

Damit sind wir beim Thema Gendoping. Seit Jahren schwirrt das Horrorszenario umher, demzufolge bei Olympia bald nur noch genmanipulierte Mutanten antreten.

Thevis Die Auswirkungen von genetischer Manipulation auf die Leistungsfähigkeit können immens sein. Tatsächlich hat die Gentherapie bei Erkrankungen bislang nicht den Erfolg gebracht, den man sich vor zehn oder 15 Jahren erhofft hat. Nur eine Handvoll von Verfahren ist zugelassen worden — und das auch nur bei extrem schweren Erkrankungen. Das Schreckgespenst des Gendopings ist nicht in der befürchteten Weise erschienen. Das heißt aber nicht, dass wir in diesem Bereich nachlassen dürfen.

Zurück zum Thema Ausnahmeathleten. War Ihr Eintreten gegen den Generalverdacht auch ein Plädoyer für Usain Bolt? Der Weltrekordler ist anders als die meisten seiner Konkurrenten nie positiv getestet worden.

Thevis Ich wehre mich grundsätzlich dagegen, Athleten zu verdächtigen, denen man nichts hat nachweisen können und die regelmäßig kontrolliert werden. Ohne Beweis kein überführter Sportler — daran möchte ich festhalten.

Die US-Sprinterin Marion Jones wurde auch nicht positiv getestet, obwohl sie — wie sich erst Jahre später herausstellte — über Jahre gedopt hatte.

Thevis Sie wurde mit Dopingsubstanzen versorgt, die damals nicht nachweisbar waren. Sie hatte einen Informationsvorsprung. Das galt auch für den Radprofi Lance Armstrong. Er wusste, auf welche Methoden und Mitteln er in welchen Zeiträumen setzen musste, um den Kontrolleuren nicht ins Netz zu gehen.

Ist das Kontrollsystem der Schwachpunkt im Antidopingkampf? Es ist ja sehr aufwendig, Athleten genau zu den Zeitpunkten zu kontrollieren, an denen Doping für sie am meisten Sinn macht.

Thevis Der Aufwand ist erheblich. Aber das Kontrollsystem ist nicht das große Problem. Der enorme Fortschritt in Medizin, Therapie und Biotechnologie macht uns mehr zu schaffen. Man kann heute leistungssteigernde Substanzen naturidentisch nachbauen. Das heißt, wir müssen differenzieren, was ist körpereigen und was ist körperfremd. Für uns stellt sich die Frage: Gehen wir das Risiko ein, auch nur einen einzigen Sportler fälschlicherweise positiv zu testen? Wir hier in Köln tendieren immer dazu, analytische Methoden mit größtmöglicher Sicherheit zu etablieren — auch wenn diese gegebenenfalls einige dopende Sportler nicht erfassen. Diesem Prinzip müssen wir Tribut zollen. Wir ertappen möglicherweise einige Sportler nicht, weil wir das Risiko eines falsch-positiven Befunds nicht eingehen wollen.

Damit folgen Sie der Maxime, den sauberen Sportler besonders zu schützen.

Thevis Wir werden immer als die Polizei im Sport dargestellt, die die Bösen fangen und bestrafen will. Tatsächlich ist es aber so, dass wir auch die fairen, sauberen Sportler vor einem falschen Verdacht schützen wollen und müssen.

MARTIN BEILS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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