Handball-EM 2024 in Deutschland „Jeder kann meine Ablösung fordern, von mir aus“

Interview | Düsseldorf · 100 Tage vor dem Eröffnungsspiel in Düsseldorf spricht Bundestrainer Alfred Gislason über die hohen Belastungen der Spieler, den Ausländeranteil in der Bundesliga, den Nachwuchs und Forderungen nach seiner Entlassung.

 Alfred Gislason bei einem Besuch im Düsseldorfer Fußballstadion.

Alfred Gislason bei einem Besuch im Düsseldorfer Fußballstadion.

Foto: Sascha Klahn

Herr Gislason, Ihr Kollege Gordon Herbert ist gerade mit den deutschen Basketballern Weltmeister geworden. Haben Sie sich die Spiele angesehen?

GISLASON Nein, habe ich nicht.

Zu viel Arbeit?

GISLASON Ich muss gestehen, dass ich mich auf Handball konzentriere. Da bin ich viel unterwegs und beschäftigt. Aber ich habe mich sehr über den Titel gefreut und verfolge auch, dass einige der Spieler in der NBA sehr erfolgreich sind.

Obwohl das Turnier weit weg war und ARD und ZDF die meisten Spiele nicht übertragen haben, haben die Basketballer eine Euphorie im Land ausgelöst. Sie erwartet ab Januar der umgekehrte Fall: Bei der EM im eigenen Land wird Ihnen die Aufmerksamkeit gewiss sein. Spüren Sie da einen besonderen Druck?

GISLASON Die Erwartungen sind höher als sonst, das ist bei einer Heim-EM klar. Noch ist das Turnier zu weit weg, als dass der besondere Druck schon spürbar wäre. Aber uns ist klar, was auf uns zukommt: volle Arenen, hohe Erwartungen. An unserer Situation ändert das nichts. Wir gehören nicht zu den Favoriten, aber wir wollen möglichst weit kommen.

Das Eröffnungsspiel findet am 10. Januar im Düsseldorfer Fußballstadion statt, da trifft Ihre Mannschaft vor mehr als 50.000 Zuschauern auf die Schweiz. Der Zuschauerschnitt in der Bundesliga lag in der vergangenen Saison bei knapp 5000. Wie kommen die Spieler mit so einer Situation zurecht?

GISLASON Das wird man vor allem beim Warmmachen oder zu Beginn des Spiels spüren. Aber alle freuen sich auf diese große Kulisse. Den Spielern wird es gehen wie mir: In dem Moment, in dem das Spiel angepfiffen wird, ist das Handballfeld genauso groß wie immer. Wir hoffen, dass sich der Funke von uns auf die Zuschauer überträgt – und umgekehrt. Das wird ein sehr besonderes Spiel für uns.

Bis zum Turnierbeginn sind es rund 100 Tage. Ihnen als Bundestrainer bleibt davon nur ein sehr kleiner Zeitraum, um mit der Mannschaft zu arbeiten. Im November stehen noch zwei Spiele gegen Ägypten an. Was wollen und können Sie bis Januar noch erreichen mit dem Team?

GISLASON Ich habe in diesem Jahr nur noch diese eine Woche und dann sehen wir uns erst zwischen Weihnachten und Neujahr wieder. Bis dahin müssen wir erstmal abwarten, wer fit ist und zur Verfügung steht für die EM.

Ihre Aufgabe, eine Mannschaft zu formen, ist durch die limitierte Zeit sehr komplex. Wie kann das trotzdem gelingen?

GISLASON Mein Co-Trainer Erik Wudtke und ich fahren in die Hallen, schauen uns die Spiele an und sprechen mit den Spielern, die in Frage kommen. Wir müssen sie in ihren Vereinen aber auch ein wenig in Ruhe lassen. Nach jedem Spieltag werte ich die Spiele aus und bilde mir daraus eine große Datenbank aus allen möglichen Kandidaten.

Sie sind viel unterwegs im Land und reisen von Halle zu Halle?

GISLASON Auch, ja. Aber effektiver ist es manchmal, drei, vier Spiele im Video auseinanderzunehmen. Da sieht man viele Dinge besser als auf der Tribüne.

Nutzen Sie die beiden Länderspiele gegen Ägypten, um noch ein paar Dinge auszuprobieren, oder beginnen Sie damit, die Mannschaft sich einspielen zu lassen?

GISLASON Die WM in Polen und Schweden verlief im vergangenen Januar ganz gut für uns. Wir hatten danach ein paar Spiele gegen Dänemark und Schweden, die von den Ergebnissen nicht so gut waren. Aber wir haben da viel getestet und ausprobiert, das war wichtig und notwendig. Wir wissen jetzt mehr über die Spieler. Aber gegen Ägypten ist schon die letzte Woche, die wir vor dem Turnier zusammen sind. Wir kommen auf die Zielgeraden, getestet wird da so gut wie gar nichts mehr. Natürlich hoffe ich, dass ich die Mannschaft, die wir in den letzten zwei Jahren aufgebaut haben, nicht großartig wegen Verletzungen umkrempeln muss.

Bei der WM lag viel Druck auf Juri Knorr, der das Spiel der Nationalmannschaft angeführt hat. Gibt es Pläne, den Druck ein wenig von ihm wegzunehmen bei der Heim-EM oder muss er das aushalten?

GISLASON Man kann das auch positiv sehen: Juri hat sehr viele Spielanteile bekommen und Verantwortung übernommen. Er hat das sehr gut genutzt, hatte volle Rückendeckung von uns und wusste, dass er auch mal einen Fehler machen darf. Juri hat ein sehr starkes Turnier gespielt. Sein Pendant auf Rückraum-Mitte, Luca Witzke, hat aber auch ein super Turnier gespielt. Momentan ist Juri verletzt, aber er wird sicher bei der EM eine große Rolle spielen.

Sie versuchen, für die EM zwei Europameister von 2016 zu reaktivieren: Hendrik Pekeler und Fabian Wiede, die zuletzt für die Turniere oft abgesagt haben. Jetzt hat sich der Berliner Wiede schwer verletzt. Konnten Sie schon mit ihm sprechen?

GISLASON Ja, ich habe mit ihm telefoniert. Fabian war sehr traurig, weil er eine große Rolle hätte spielen können bei der EM. Das ist nach der Operation leider sehr unwahrscheinlich.

Wie steht es um Hendrik Pekeler vom THW Kiel, der im Sommer an der Ferse operiert wurde?

GISLASON Mit ihm habe ich regelmäßig Kontakt. Ich habe mich riesig gefreut, dass er gegen Szeged in der Champions League erstmals wieder zum Einsatz kam, sogar zwei Wochen früher als erwartet.

Wie könnte er der Mannschaft bei der EM helfen?

GISLASON Hendrik ist ein Weltklassespieler. Er bringt sehr viel Erfahrung mit, aber er ist auch extrem flexibel in so gut wie jeder Abwehrformation einsetzbar. Er würde es uns ermöglichen, in der Abwehr viel mehr Varianten zu spielen.

Die U21-Nationalmannschaft ist im Sommer Weltmeister geworden. Nehmen Sie ein paar Talente mit zur EM oder käme das für manche zu früh?

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Foto: dpa/Marius Becker

GISLASON Möglich ist alles. Es geht nicht ums Alter, nur um die Qualität. Einige der U21-Spieler waren schon bei mehr als einem Lehrgang der A-Nationalmannschaft dabei und kennen bereits unsere Abläufe. Aber man muss auch sagen, dass der Schritt von der U21 zur A-Mannschaft groß ist. Aber für einige ist das schon möglich, mitzukommen.

Macht es Ihnen Hoffnung, dass da gute Leute nachkommen?

GISLASON Das war auch in der Vergangenheit so, dass gute Leute nachkommen. Dieser Jahrgang jetzt scheint sehr, sehr gut zu sein. Das Problem ist ein anderes: Was passiert mit den Spielern in den Jahren nach der U21-Zeit? In anderen Ländern übernehmen sie wichtige Rollen in ihren Vereinen und bekommen viel Spielzeit, bei uns eher nicht. Aber ich bin sehr optimistisch, weil einige der Weltmeister jetzt in ihren Vereinen mehr zum Zug kommen. Das freut mich sehr und macht mir große Hoffnung – auch dass die Vereine verstehen, wie wichtig das ist.

Sie deuten es an: Bei den deutschen Spitzenvereinen ist der Anteil der ausländischen Spieler recht hoch. Ist es für junge deutsche Nachwuchsspieler schwieriger sich durchzusetzen, weil die Bundesliga so eine Strahlkraft hat?

GISLASON Ja, sicherlich. Man muss nur den Ausländeranteil von Deutschland und Dänemark vergleichen – dort gibt es viel mehr Platz für die einheimischen Spieler. Das ist seit Jahren so. Die Bundesliga ist die stärkste Liga in der Breite, für viele Skandinavier ist es ein Traum, da zu spielen. Das macht die Liga aus, aber es ist ein Problem für junge Talente. Man sagt immer, dass die Deutschen einfach besser werden müssten, um sich durchzusetzen. Aber wenn in der Hälfte der Bundesligavereine mehr als zehn Nicht-Einheimische im 16er-Kader stehen, ist das problematisch.

Sollten junge Spieler eher einen Umweg gehen, über das Ausland zum Beispiel, so wie Juri Knorr? Anstatt sich bei den Top-Clubs auf die Bank zu setzen?

GISLASON Ich plädiere dafür, dass die Bundesligavereine sich darauf verständigen, auf jeder Position nur einen Ausländer einzusetzen. Das würde schon riesig helfen. Juri war in Spanien ein Jahr beim FC Barcelona, das war ein wichtiger Schritt für ihn – und es wäre vielleicht für viele andere auch gut, etwas Anderes zu sehen und andere Erfahrungen zu sammeln. Im Vergleich zu den Skandinaviern gehen die Deutschen kaum ins Ausland. Und wenn die Skandinavier in die Bundesliga kommen, sind sie oft 24, 25 und bringen schon Erfahrung mit.

Sie haben in den vergangenen Jahren häufiger Absagen von Spielern für die Nationalmannschaft bekommen, was auch an der enormen Belastung im Handball liegt. Das ist schon lange ein großes Problem, aber es ändert sich nichts. Was müsste geschehen?

GISLASON Mir wurde schon zu Beginn des Jahrtausends in dieser Frage nicht zugehört, warum sollte es jetzt anders sein? Natürlich ist es bitter, wenn Spieler absagen. So wie bei der WM 2021 in Ägypten, da haben sieben Spieler abgesagt, was auch an Covid-19 lag.

Auch nach der Pandemie gab es Absagen mit Blick auf die Belastung.

Handball-Bundestrainer: Das ist Alfred Gislason
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Das ist Alfred Gislason

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Foto: dpa/Axel Heimken

GISLASON Die Belastung für die Bundesligaspieler ist sehr groß, keine Frage. Nur, ein Großteil der dänischen oder schwedischen Nationalmannschaft spielt genauso viel und lange in der Bundesliga. Als DHB versuchen wir, alles für unsere Spieler zu machen. Bei der WM 2023 waren in der Vorrunde zum Beispiel auch die Familien der Spieler in Kattowitz. Viele der deutschen Spieler fangen mit Anfang 30 auch an zu planen, was sie nach der Karriere machen. Das ist einfacher für Skandinavier, die haben kein Problem, nach Hause zu kommen.

Wieso haben die es leichter?

GISLASON Das System ist so, dass sie leichter in Jobs zurückkehren oder solche beginnen können. Die meisten haben riesige Erfahrungen in der Bundesliga gesammelt und bekommen gute Trainerjobs in der Heimat – so sind sie sozial gut abgesichert.

Was ist denn da der Unterschied zu Deutschland?

GISLASON Einige Spieler mit Anfang 30 denken, dass sie länger in ihren Clubs spielen können, wenn sie die Nationalmannschaft auslassen wegen der Belastung. Das ist sicher bei manchen der Hintergrund und auch verständlich – teilweise. Das trifft uns aber schon hart. Wenn man die Spanier sieht, da denkt keiner ans Aufhören, solange er gehen kann.

Nach dem WM-Titel der U21 hat Bob Hanning, Geschäftsführer der Füchse Berlin und ehemaliger DHB-Vizepräsident, einen starken Umbruch im Kader der A-Nationalmannschaft gefordert. Auch über Ihre Ablösung als Bundestrainer wurde spekuliert. Wie blicken Sie darauf?

GISLASON Ich sage mal so: Der Umbruch in der Nationalmannschaft hat vor zwei Jahren stattgefunden. Wir haben sehr viele junge Spieler – Juri Knorr, Luca Witzke, Julian Köster, Lukas Stutzke, Joel Birlehm, Lukas Mertens, ich könnte so weitermachen – integriert. Die kommen auch alle aus der U21-Nationalmannschaft, aber eben vor ein paar Jahren. Die U21-Weltmeister Renars Uscins, David Späth und Justus Fischer, auch Max Beneke, waren in den letzten Lehrgängen von uns dabei. Da muss man kein Prophet sein, um zu sagen, dass sie relativ gute Karten haben, reinzukommen. Da kann sich jeder hinstellen und fordern, dass sie dabei sind, aber die waren schon dabei.

Und die Forderung nach Ihrer Ablösung – beschäftigt Sie das?

GISLASON Ich war 22 Jahre lang Bundesligatrainer und selbst in Vereinen, in denen es super lief, wurden nach zwei Niederlagen große Fragen gestellt. Die Lieblingsphrase ist dann, er erreicht die Mannschaft vielleicht nicht mehr. Das interessiert mich extrem wenig. Wenn man 30 Jahre lang Trainer ist, dann hat man das alles schon erlebt. Ich verstehe die Fans, die sich mit der Mannschaft identifizieren. Es ist sicher nicht ideal, ausgerechnet gegen Dänemark viele Dinge zu testen, aber nötig, weil wir keine anderen Spiele haben. Jeder kann meine Ablösung fordern, von mir aus – aber in dieser Hinsicht bin ich entspannt.

Sie haben vorhin gesagt, Deutschland gehöre nicht zum Kreis der Favoriten bei der EM. Was wäre denn ein gutes, realistisches Ziel, das Sie sich mit der Mannschaft vornehmen?

GISLASON Es ist extrem schwierig, sich solche Ziele zu setzen. Ich kenne kaum eine andere Nation, die immer im Voraus sagt, was sie erreichen will. Das kann man sehr leicht sagen, wenn es um die Anzahl der Schrauben geht, die man produzieren muss. Aber im Sport ist es anders. Wir wollen so weit wie möglich kommen und unser Ziel ist sicherlich das Halbfinale. Wir wissen aber, dass bei einer EM kaum ein Fehler verziehen wird. Da gibt es keine leichteren Gegner, das ist alles Europa. Um das Halbfinale relativ sicher zu erreichen, darf man höchstens ein Spiel verlieren. Aber Deutschland war immer eine Turniermannschaft, besonders zu Hause, die sich von Spiel zu Spiel steigert, so wie 2007. Wir müssen für die Euphorie selbst sorgen und diese Euphorie kann uns dann hoffentlich sehr weit tragen.

Zu den Titelfavoriten gehören die üblichen Verdächtigen?

GISLASON Ja klar, die üblichen Verdächtigen: Dänemark, Schweden, Frankreich, Spanien, Norwegen, vielleicht sogar Island. Vor allem sehe ich da aber die Dänen, was die an Breite im Kader haben, ist phänomenal.

(her)
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