Uni statt Trainingsplatz Erik Wille — Abpfiff mit 22

Düsseldorf · Die Karriere des Fußballprofis Erik Wille vom MSV Duisburg hat gerade erst begonnen, da ist sie auch schon wieder vorbei. Wie schwer ist es, mit 22 Jahren noch mal von vorne zu beginnen?

Früher stand Erik Wille täglich auf dem Fußballplatz, heute sitzt er täglich in der Uni.

Früher stand Erik Wille täglich auf dem Fußballplatz, heute sitzt er täglich in der Uni.

Foto: Frank Rumpenhorst

Nur ein einziges Straßenschild weist auf das Gebäude hin, in dem der junge Mann an seinem neuen Leben arbeitet. "Accadis Hochschule" — links abbiegen. Er bekommt an diesem Mittwochvormittag einen der letzten Parkplätze am Straßenrand. Kurze Zeit später sitzt er über einer Chinesisch-Klausur und stellt fest, dass Chinesisch eine ziemlich schwierige Sprache ist. Aber "schwierig" ist Erik Willes Spezialität.

Um ein Uhr gibt Wille seine Klausur ab. Im Flur, der zurück zum Foyer führt, hängen fünf gerahmte Poster nebeneinander. Auf denen sind nach Alphabet sortiert alle Studenten abgebildet. Erik Wille ist einer der letzten. Einer von 539, die die Business School am Rand von Bad Homburg besuchen, einer Kleinstadt vor den Toren Frankfurts. Wille trägt ein graues T-Shirt, schwarze Jeans, Sneakers. Ihm bleibt keine halbe Stunde bis zur nächsten Vorlesung. Er geht in den Keller, in die Lounge, nimmt von seinen Freunden das Essen entgegen, das er beim Italiener bestellt hat, setzt sich und schaufelt mit der Plastikgabel Pesto-Spaghetti aus der Plastikschüssel in seinen Mund.

Wikipedia fasst sein Schicksal nüchtern zusammen

Man merkt Erik Wille nicht an, dass das Schicksal sich eine besonders grausame Pointe für ihn ausgedacht hat. Er ist ein höflicher, junger Mann, den man ohne zu zögern im Auto mitnehmen würde, wenn er mit Pappschild am Straßenrand stünde. Sein bisheriges Leben hat Wikipedia in einem nüchternen Satz zusammengefasst: "Erik Wille (* 28. März 1993 in Frankfurt am Main) ist ein ehemaliger deutscher Fußballspieler." Ehemalige Fußballspieler gibt es viele. Doch während die meisten anderen Profis ihre Karriere erst jenseits der 30 beenden, gab Wille mit 22 seinen Rücktritt bekannt. "Ich hatte einfach Pech mit der Hüfte", sagt er. Mehr als zehn Jahre hatte er für den Traum vom Berufsfußballer geschuftet. Doch kaum Realität war er nach vier Spielen wieder vorbei. Und weil in diesem Alter nur die wenigsten Profis ausgesorgt haben, und jeder ehrgeizige Mensch eine neue Aufgabe braucht, versucht er sich nun an seinem zweiten Plan. Ohne Öffentlichkeit, ohne Fans, ohne das Spiel am Wochenende, ohne das tägliche Training und ohne seine Mitspieler. Bekommt er das hin?

Die Geschichte von Erik Wille war viele Jahre die eines Menschen, der sich nicht aufhalten ließ. Er wächst im Frankfurter Stadtteil Enkheim auf, wo bereits die hessische Provinz beginnt. Sein Vater ist Journalist, seine Mutter Erzieherin. Mit fünf Jahren geht er zum ersten Mal zum Fußballtraining von Germania Enkheim. "Weil ich angespuckt wurde, hat es ein Jahr gedauert, bis ich wiedergekommen bin", sagt er. Schnell wird klar, dass er besser ist als alle anderen in der Mannschaft. Bei einem Turnier lädt ihn ein Jugendtrainer von Eintracht Frankfurt zum Probetraining ein. Von der E-Jugend an durchläuft er alle Jugendmannschaften des Vereins. Mit seiner Schnelligkeit, Zweikampfstärke und Spielübersicht gehört er immer zu den Leistungsträgern im Team. Er ist keiner der Lautsprecher, eher in sich gekehrt, ein wenig schwermütig, aber ein guter Mannschaftskamerad, einer, den alle mögen. Als willensstark und zielstrebig beschreiben ihn Wegbegleiter. Am Ende jeder Saison wird aussortiert, Wille darf jedes Mal bleiben.

In der C-Jugend 400 Euro monatlich

Der Fußball nimmt immer mehr Platz in seinem Leben ein. Schon die C-Jugend bedeutet, vier bis fünf Mal pro Woche zu trainieren, anderthalb bis zwei Stunden, neben der Schule, aber auch 400 Euro monatlich. Die Zeit, die er für den Fußball braucht, fehlt für Freunde und Partys. Dafür wird immer klarer, dass er werden kann, wovon viele Jungs träumen: Fußball-Profi. Er wird Deutscher Meister mit der B-Jugend, engagiert einen Spielerberater. Nach der A-Jugend gibt ihm Eintracht Frankfurt 2012 einen Profi-Vertrag. Bevor er seinen Dienst antritt, macht er Abi. Mit 2,1. Danach wird es schwierig.

Plötzlich gehört der Defensivspieler nicht mehr zu den wichtigsten Spielern im Team. "Da habe ich zum ersten Mal meine Grenzen erkannt." Eintracht Frankfurt ist gerade in die Bundesliga aufgestiegen, Trainer Armin Veh setzt auf ältere Profis mit Erfahrung. "Falscher Ort, falsche Zeit", sagt Alexander Schur, Eintracht-Legende und Willes Trainer in der A- und B-Jugend. Eine dunkle Phase sei das für Wille gewesen. Die Zweifel nagen an ihm. Wille wird nicht ein Bundesligaspiel für Eintracht Frankfurt bestreiten. Zwar trainiert er mit den Profis, aber am Wochenende läuft er für die U23 auf, in der folgenden Saison wechselt er ganz zur zweiten Mannschaft. Er fällt in ein Loch. In der zweiten Mannschaft ist es schwer, auf sich aufmerksam zu machen. War es das schon mit der Profi-Karriere?

Zweites Spiel, erstes Tor

Dann zeigt der MSV Duisburg Interesse am schnellen Außenverteidiger. Duisburg ist zu diesem Zeitpunkt Drittligist, will aber unbedingt wieder aufsteigen. Wille wechselt im Sommer 2014. "Er ist jung, hat viel Potenzial", sagt Sportdirektor Ivo Grlic damals. Nun scheint alles gut zu werden. Wille zieht sich zwar in der Saison-Vorbereitung einen Muskelfaserriss zu und verpasst den Saisonauftakt, doch schnell kämpft er sich wieder zurück. Es ist seine erste ernsthafte Verletzung. Am 2. August 2014 gibt er sein Debüt als Profi. Gegen Sonnenhof Großaspach wird er in der 73. Minute eingewechselt. Beim zweiten Einsatz schießt er sein erstes Tor, ein Distanzschuss, Tor-des-Monats-verdächtig. Danach steht er in der Stammformation. Im DFB-Pokal schlägt das Team den Zweitligisten Nürnberg. Wille hat vier Spiele als Profi absolviert, 261 Minuten in zwei Wochen. "Ich hatte das Gefühl, dass es jetzt funktioniert. Die Karriere hatte nun wirklich begonnen, eine Belohnung für die ganze Arbeit."

Ein paar Tage später spürt er beim Training einen Schmerz. Der nächste Muskelfaserriss. Niemand weiß, warum. Er wird auf alle möglichen Arten untersucht und schuftet für sein Comeback. Nach zehn Wochen reicht es wieder für ein paar Spiele in der zweiten Mannschaft, er trainiert sogar mit den Profis. Dann aber tut es schon wieder weh. Gegenüber der Presse erklärt Trainer Gino Lettieri, sie wüssten nicht, was Wille hat. Ein MRT schafft Aufklärung. Die Diagnose ist ein Schock, ein "Schlag ins Gesicht", wie Willes Freundin Carolin sagt. Er leidet unter dem so genannten Impingement-Syndrom, eine Gelenkspalt-Verengung in der Hüfte, die auch dafür sorgt, dass seine Muskeln nicht ausreichend versorgt werden. Deshalb die Muskelfaserrisse. Man könnte auch sagen: Erik Wille hat die Hüfte eines alten Mannes.

Von jetzt auf gleich ist seine Karriere in Gefahr. Ein Experte in München sagt: Sofort operieren. Aber eine Garantie, dass danach wieder alles gut wird, kann er nicht geben. Am 23. Dezember wird Wille in München an der linken Hüfte operiert. Heiligabend verbringt er alleine im Krankenhaus, am nächsten Tag holt ihn seine Familie ab. "Ich lag mehr, als dass ich saß." Nach der Reha versucht er, wieder in Form zu kommen. Immer wieder Übungen mit Fitnesstrainer Andreas Tappe, immer wieder Rückschläge, Schmerzen, Entzündungen, sobald die Belastung etwas größer wird. Aber er will noch einmal alles probieren, nicht schon aufgeben und es später bereuen. "Ein Musterprofi", sagt Tappe über ihn. Doch während der MSV Duisburg in die 2. Liga aufsteigt, muss Wille einsehen, dass er es nicht mehr schafft.

Beim Auszug fließen Tränen

Im Sommerurlaub in der Türkei merkt er, dass selbst die wenigen Übungen zu viel für seine Hüfte sind. Auch der Verein rät ihm aufzuhören. Wenn er weiter macht, kann er das mit dem Laufen vielleicht bald ganz vergessen. Im Oktober geht er mit seinem Rücktritt an die Presse. Sport-Invalide mit 22. So einfach ist das. Aber auch so schwer. Sein früherer Mitspieler Tim Albutat sagt: "Es ist wie für einen Chirurgen, der endlich Chefarzt wird und sich dann beide Hände bricht." Was nun? Als Wille seine Kisten in der Duisburger Wohnung packt, fließen nicht zum ersten Mal Tränen. Den Transporter fährt sein Vater zurück nach Frankfurt.

Wer in jungen Jahren seine Profikarriere beendet, hat es besonders schwer. "Fußball nimmt eine größere Rolle ein als bei den Spielern, die schon eine Familie haben", sagt Alexander Schur. "Das Loch wird mit Schwermut gefüllt." Wille muss den Übergang von einer Welt schaffen, in der er sich außer um Fußball um fast nichts kümmern musste, in eine Welt, in der er sich um alles kümmern muss. Beim MSV Duisburg reichte es zum Beispiel, vorm Training einfach seinen Wagenschlüssel abzugeben, und nach dem Training waren die Winterreifen drauf. Nun muss er selbst dem Tag eine Struktur geben. Und er braucht eine neue Aufgabe, schon deshalb, weil er zwar Rücklagen hat, die aber nicht bis zur Rente reichen. Früher hat er knapp 100.000 Euro im Jahr verdient. Nun kauft er weniger Klamotten, kocht häufiger selbst, statt jeden Abend essen zu gehen. Das Auto, mit dem er zur Uni fährt, gehört zu den Dingen, die ihm geblieben sind.

Seine neue Aufgabe wird das Studium in Bad Homburg. "Erst an der Uni wurde mir klar: Meine Profi-Karriere ist vorbei", sagt er. General Management heißt das Fach, eine Mischung aus BWL und VWL. Es ist eine Privatschule, für die er eine Aufnahmeprüfung bestehen muss. Monatlich zahlt er fast 700 Euro Studiengebühren.

Nicht länger einer von 539 Studenten sein

Gerade zu Beginn fällt ihm der Umstieg schwer. Früher bestand sein Berufsleben aus Bewegung an der frischen Luft, heute aus Sitzen in nüchternen Räumen. In schlechten Phasen fragt er sich, was er dort eigentlich macht. "Welchen Sinn macht die Uni? Warum hat es mich erwischt?" Die Zweifel, die ihn schon als Spieler ausgezeichnet haben, begleiten ihn auch an der Uni. War die Operation wirklich nötig? Hätte er es erst mal weiter versuchen sollen? Wenn er mit diesen jüngeren Leuten in der Uni sitzt, wird ihm besonders deutlich: Er war schon mal weiter. Seine Verdienste zählen nicht mehr. Es ist, als hätte er gerade sein Abitur gemacht. "Beim Fußball gehörte ich zu den besten", sagt er. "Das ist an der Uni nicht mehr so." Was in seinem Kopf vorgeht, damit geht er nicht hausieren. Er trägt vieles mit sich selbst aus, seine Freundin muss ihn ansprechen, wenn sie sieht, dass ihn etwas bedrückt. Eine Zeitlang hat sie gedacht, dass er das Karriere-Aus schon verkraftet hat. Nun sagt sie: "Er ist darüber noch nicht hinweg."

Doch der Ehrgeiz ist wieder da, sagt er, er will sich beweisen, er will irgendwann nicht mehr einer von 539 Studenten sein, deren Bild an der Wand hängt. Auch wenn er weiß, dass er das, was er am besten kann, Fußballspielen, nie mehr beruflich machen wird. Dass er am Wochenende nicht vor zehntausenden Fans Fußball spielt, sondern Wochenende hat wie jeder andere. Immerhin kennt er so etwas wie Druck nicht mehr, denn was ist der Druck in einer Klausur gegen den Druck bei einem Spiel vor 20.000 Zuschauern? Doch wenn etwas ähnlich auf Wettbewerb ausgelegt ist wie der Profi-Sport, dann ist es die Wirtschaft. Dort gibt es zwar keine Muskelfaserrisse, aber Niederlagen, Burn-Out, Intrigen. Doch er sagt: "Was soll mich jetzt noch schocken?" Statt Chinesisch hätte er auch Spanisch nehmen können. Menschen, die ihm nahestehen, trauen ihm eine erfolgreiche Zukunft zu. Investmentbanking, Unternehmensberatung. Das ist so ungefähr sein Ziel.

Für Fußball hatte sich Wille nach seinem Rücktritt erst mal nicht interessiert. Dann fing er wieder an, die Spiele des MSV im Fernsehen zu verfolgen, kickte auch wieder selbst mit Freunden. Die Hüfte macht ihm im Alltag nicht zu schaffen. Er hat kaum zugenommen. Vor einigen Wochen wagte er sich zum ersten Mal wieder ins Duisburger Stadion. Die Verbindung zum Verein ist weiterhin eng. Er war ein beliebter Mitspieler. Nach dem Aufstieg gab jeder etwas von seiner Prämie ab, damit auch Erik eine bekam.Von der Tribüne des Business-Bereichs sieht er neben Fitnesstrainer Tappe, wie der MSV 2:1 gegen Union Berlin gewinnt und sich wieder Hoffnung macht, in der 2. Liga zu bleiben. Bei den Toren springt er auf. Tappe hat den Eindruck, dass ein sehr aufgeräumter Mensch neben ihm sitzt.

Die Spieler des MSV Duisburg haben eine WhatsApp-Gruppe. Wille ist dort noch immer angemeldet. Jede Nachricht erinnert ihn an sein altes Leben. Er bringt es nicht übers Herz auszutreten.

(seda)
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