Oliver Neuville über Erdogan-Skandal „Gündogan und Özil wussten genau, was sie tun“

Düsseldorf · Inka Grings, Oliver Neuville und Simon Rolfes waren zu Gast beim WM-Gipfel unserer Redaktion. Thema war dabei auch der Eklat um Mesut Özil und Ilkay Gündogan.

 Oliver Neuville spricht beim WM-Gipfel der Rheinischen Post.

Oliver Neuville spricht beim WM-Gipfel der Rheinischen Post.

Foto: Andreas Bretz

Das neue Spielgerät beäugen Inka Grings, Oliver Neuville und Simon Rolfes ganz genau. „Fühlt sich an wie ein Golfball“, sagt Rolfes (36). „Ziemlich leicht“, bemerkt Grings, lässt den „Derbystar“-Ball für die kommende Bundesligasaison durch die Hände gleiten – und erntet ein zustimmendes Nicken von Neuville (45). Obwohl die drei ihre Karrieren als aktive Fußballprofis beendet haben, dreht sich nach wie vor alles um den Fußball.

Grings hat 96 Länderspiele für die Fußballnationalmannschaft der Frauen bestritten und zwei EM-Titel gewonnen. Bislang trainierte sie die U17 von Viktoria Köln, wird das Traineramt aber zur kommenden Saison beenden, wie sie verriet. Gut eine Woche vor dem WM-Start in Russland stellte sie sich gemeinsam mit dem 69-fachen Nationalspieler Neuville sowie Rolfes, Leverkusens ehemaligem Mittelfeldakteur (26 Länderspiele für Deutschland), den Fragen der RP-Sportchefs Robert Peters und Gianni Costa.

Bereitet Ihnen das 1:2 im Testspiel gegen Österreich Sorge?

Oliver Neuville Nein. Man hat gemerkt, dass Leistungsträger wie Toni Kroos, Mats Hummels, Jerome Boateng oder auch vorne Marco Reus gefehlt haben. Vor einer WM wird eben viel ausprobiert.
Simon Rolfes Es wird hart trainiert, und die letzten Tests vor einer WM waren häufig nicht gut. Von daher hätte es mich eher überrascht, wenn es gut gelaufen wäre.

War die Entscheidung gegen Leroy Sané richtig?

Rolfes Sané hat zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich zu fest damit gerechnet, dass er dabei ist. Jonathan Tah hatte hingegen sicher im Gespür, dass es nicht reichen wird. Und für Nils Petersen war es einfach undankbar. Es hat mich aber gefreut, dass er mit 29 Jahren sein erstes Länderspiel bestreiten durfte. Das ist für alle Spieler in der Bundesliga eine Motivation.

Neuville Ich hätte genauso entschieden wie Löw. Sané hat bei Manchester City eine tolle Saison gespielt, aber in der Nationalmannschaft hat er nicht überzeugt.
Inka Grings Er ist sicher kein einfacher Typ und ist in einer Phase, in der er sich weiterentwickeln muss. Sané hat großes Potential und kann den Unterschied ausmachen.

Was braucht man, um in die Nationalmannschaft zu kommen?

Rolfes Du musst dich nicht unterordnen, sondern einordnen. Die Nationalmannschaft ist eine ganz andere Hausnummer als der Verein. Da geht’s kürzer und härter zur Sache. Das sind alles Topstars, und jeder hat eine breite Brust. Das ist schon ein besonderer Verdrängungswettbewerb.

Wie schmerzhaft ist so eine Absage, kurz vor einem Turnier?

Rolfes Jogi Löw hatte mir 2012 vor der EM abgesagt, da war ich zwar nicht im Vorbereitungslager, aber wenn man das Ticket nach Hause bekommt, ist das schon hart. Der Anruf kommt einen Abend vorher. Wenn der Co-Trainer anruft, ist das gut. Dann bist du dabei.

WM-Gipfel mit Simon Rolfes, Oliver Neuville und Inka Grings
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Rolfes, Neuville und Grings zu Gast bei der Rheinischen Post

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Foto: Andreas Bretz

Was unterscheidet die DFB-Vorbereitung vom Vereinstraining?

Grings Du bist viel intensiver mit den Spielern zusammen. Für mich war das immer das Größte, weil es Spaß gemacht hat. Es ist brutal anstrengend, aber du arbeitest fokussiert auf ein Ziel hin.
Rolfes Deswegen spielt die Kaderzusammensetzung eine so wichtige Rolle. Du hockst 24 Stunden aufeinander, alle sind unter Spannung. Die Franzosen beispielsweise hatten immer Top-Einzelspieler in den eigenen Reihen, haben aber als Team meist nicht funktioniert. Du brauchst am Ende eine gute Energie in der Truppe, das ist ein entscheidender Faktor.

Die Bundesliga war zuletzt oft mit Randthemen überladen, mit Technik statt mit dem Sport. Wie sehen Sie die Entwicklung des Fußballs?

Rolfes Der Fokus muss wieder zurück zum Fußball kommen, auf die Ausbildung von Spielern und die Verbesserung des Spiels. Die internationalen Ergebnisse könnten auch besser sein. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verlieren.
Neuville Der Videobeweis ist ein Beispiel. Du denkst, du hast jetzt mehr Gerechtigkeit. Aber manchmal ist es umgekehrt. Das hat jeder beim DFB-Pokalfinale gesehen, als Bayern gegen Frankfurt den Elfmeter nicht bekommen hat.
Grings Wir verlieren die Balance zum Spiel. Das Kommerzielle macht den Fußball kaputt und ist mir zu viel geworden. Die Vereine sollten vor der eigenen Haustüre kehren und mehr Wert auf die Nachwuchsförderung legen. Es ist ja schon fast pervers, wie zum Beispiel der FC Chelsea Jugendspieler kauft. Das hat nichts mehr mit Förderung zu tun. Jungen Talenten wird kaum mehr die Zeit gegeben, sich zu Profis zu entwickeln. Das ist eine Entwicklung, die sich die Spitzenmannschaften in der Liga nicht abschauen sollten.

Der Fußball scheint einer einheitlichen Taktik verfallen zu sein. Bei der EM 2016 haben sich viele Teams nur hinten reingestellt. Wird das auch ein Trend der WM 2018 sein?

Rolfes Ich glaube nicht. Es ist aber in Deutschland ein großes Problem, dass keiner mehr den Ball haben will. Die Spanier machen uns das Gegenteil vor. Die zeigen, dass man den Europapokal nur mit dem Ball gewinnen kann.
Neuville Viele deutsche Teams treten international auch nur mit der B-Elf auf, weil sie die Bundesliga als wichtiger ansehen.

Wie entstehen solche Trends?

Grings Vereine haben Leistungsdruck und sind andererseits limitiert. Die wenigsten jungen Talente bekommen noch die Zeit, sich zum Profi zu entwickeln.
Rolfes Du machst es dir durch dieses taktische Mittel relativ einfach, weil du wenig spielerische Qualität brauchst und schnellen Erfolg haben kannst. Das funktioniert aber nur, wenn wenigstens eines der beiden Teams spielen will. Wir müssen von unseren Spitzenteams erwarten, dass sie Fußball spielen wollen. Es ist ja teilweise grausam anzusehen, wenn zwei Bundesliga-Mannschaften aufeinandertreffen, die beide nicht den Ball haben wollen.

Herr Rolfes, wann haben Sie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eigentlich das letzte Mal ein Trikot geschenkt?

Rolfes (lacht) Ich hätte kein Problem, ihm eins zu schenken. Aber er hat mich noch nie eingeladen!

Mesut Özil und Ilkay Gündogan haben sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ablichten lassen. Wie bewerten Sie die Aktion?

Neuville Bevor du heutzutage so ein Foto machen lässt, sprichst du dich mit deinen Beratern ab. Die beiden wussten schon genau, was sie tun. Und der Dritte (Emre Can, Anm. d. Red.), hat die Einladung ja auch abgelehnt.
Rolfes Die Reaktionen waren sicher nicht überraschend. Erdogan vertritt nicht unsere demokratischen Werte, daher war es ein Fehler. Wir machen alle Fehler, aber die muss man dann eingestehen. Da hätte ich mir schon ein noch klareres Bekenntnis gewünscht. Danach kann es auch wieder weitergehen. Dass sich Ilkay erklärt hat, war ein Schritt in die richtige Richtung.
Neuville Özil aber noch nicht. Man weiß nicht, was im Hintergrund vorher passiert ist.
Grings Ich fand das absolut grenzwertig. Du vertrittst als Verband, als Mannschaft und Spieler Werte, das müssen Profis wissen. Ich bin sicher, sie wussten, was sie tun. Ich habe dafür kein Verständnis. Vielleicht hätte man Konsequenzen ziehen müssen. Es gibt ja eigentlich nur eine, nämlich streichen. Ein Gespräch allein, da bekommen Spieler vielleicht rote Ohren – und gehen dann wieder auf den Platz.

Auch mit Blick auf das WM-Gastgeberland Russland: Sollten sich Sportler zu Politik äußern?

Rolfes Die Spieler sind keine Politikexperten. Die fahren in der Rolle als Botschafter des Sports, des völkerverbindenden Fußballs, hin. Da darf man den Spielern nicht zu viel aufbürden. Sportler tun sich selbst gut, wenn sie sich politisch zurückhalten.

Trotzdem gibt es ja die Symbiose von Sport und Politik.

Grings Die meisten Menschen und Kulturen kommen beim Fußball zusammen. Da musst du Politik und Sport verbinden und das ausnutzen, aber Spieler sollte man da heraushalten. Das ist nicht ihr Job.

Rolfes Dass sich die Jungs damit auseinandersetzen, ist ganz klar. Aber man kann von Fußballern nicht solche politischen Statements erwarten wie vielleicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Zurück zum Sportlichen. Wer zählt für Sie zu den WM-Titelfavoriten?

Neuville Natürlich gehört Deutschland dazu. Die Spanier sind richtig stark, und Frankreich ist auch als Team im Kommen. Eine Außenseiterchance traue ich Belgien zu.
Rolfes Viele Favoriten sind es diesmal nicht. Vielleicht neben Deutschland, Spanien und Frankreich noch die Brasilianer.
Grings Ich bin auf England gespannt. Die haben einen guten Kader.
Rolfes Ja, England kommt sicher, aber eher beim nächsten Turnier.

Welcher Spieler könnte der große Star der WM werden?

Rolfes Ich hoffe zwar, dass die Spanier dann im Finale verlieren, aber für mich ist es Andrès Iniesta. Wie der spielt! Das ist fantastisch. Der ist einfach genial.
Neuville Ich freue mich, dass Marco Reus sein erstes großes Turnier spielt. Ich drücke ihm die Daumen. Er ist ein guter Junge. Wenn er in Topform ist, macht er viele Tore.

Einen deutschen Star sollten wir noch behandeln: Manuel Neuer. Viele haben in dem klaren Bekenntnis zu Neuer eine Herabsetzung von ter Stegen gesehen. Sie auch?

Grings Das war es irgendwo schon. Aber Neuer hat sich den Status über Jahre erarbeitet. Es gibt diese Stammspieler, auf die kannst und darfst du nicht verzichten. Ich bin sicher, dass vernünftig mit Marc-André geredet wurde.
Rolfes Manuel Neuer ist Manuel Neuer. Der hat Persönlichkeit. Und das hat natürlich auch Wirkung auf den Gegner.
Neuville Marc-André ist auch überragend. Er hat eine tolle Saison bei Barcelona gespielt. Über Torhüter müssen wir uns keine Sorgen machen, auch über die Nummer drei nicht. Wobei, als dritter Torwart zur WM zu fahren, das ist wie Urlaub.

Das Gespräch führten Gianni Costa und Robert Peters. Aufgezeichnet von Jessica Balleer.

(RP)
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