WM-Boykott Keiner von achtzig Millionen

Düsseldorf · Deutschland spielt WM – na und? Seit 1990 hat unser Autor kein Auftaktspiel der Nationalmannschaft verpasst. Diesmal entschied er sich bewusst dagegen. Wie es ist, nicht dazuzugehören.

 So alleine wie Mesut Özil auf diesem Bild war unser Autor während des Auftaktspiels gegen Mexiko.

So alleine wie Mesut Özil auf diesem Bild war unser Autor während des Auftaktspiels gegen Mexiko.

Foto: dpa/Christian Charisius

Als die deutsche Nationalmannschaft mit dem Offensivspiel und dem Defensivspiel und sowieso mit allem kämpft, kämpfe ich mit finnischen Vornamen. Der Krimi, den ich mir auf Netflix anschaue, spielt in der finnischen Provinzstadt Lappeenranta. Eine Frau wurde in einem Käfig in einem See versenkt. Es gibt eine Menge Verdächtige und alle haben sie Nachnamen mit siebzehn Vokalen, und ist Miku nun eine Frau oder ein Mann? Ich bin mir sehr sicher, dass in diesem Moment sonst niemand in Deutschland schaut, was ich schaue. Die deutsche Herrenfußballnationalmannschaft spielt gegen Mexiko, WM-Auftakt, bloß ich bin nicht dabei. Und so fühlt es sich auch an. Alle sind zur Party des Jahres eingeladen worden, nur ich habe zum ersten Mal gesagt: Nee du, lass mal.

Wer die WM boykottiert, der wirkt schnell prätentiös. Das klingt ja auch albern: Durch das Nicht-Schauen einer Großveranstaltung ein Ausrufezeichen setzen wollen. Das ist ungefähr so wirkungsvoll, wie sich mit einem Protestplakat in den Wald zu stellen.

Doch ich möchte den Schriftsteller Daniel Kehlmann zitieren, der jüngst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ über das Konzept WM-Boykott schrieb, das sei eine kuriose Idee, gegen die sich allerdings nichts Vernünftiges einwenden lasse:

„Solange das Großereignis in der Hand einer mafiösen Organisation ist, solange die Weltmeisterschaften in Ländern stattfinden, die diese mit Bestechung eingekauft haben, solange dort Stadien unter Bedingungen gebaut werden, die an Sklaverei gemahnen, solange in ihnen und um sie nationale Rechtsprechung, Redefreiheit und Freiheit des Handels ausgesetzt sind und solange der Verein, der von alldem profitiert, fast keine Steuern an die Gesellschaft zurückgeben muss – sind nicht alle, die trotzdem zuschauen, Komplizen eines skandalösen Unrechts?“

Deutschland gegen Mexiko bei WM 2018: Deutsche Fans trauern auf Berliner Fanmeile
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Deutsche Fans trauern auf Berliner Fanmeile

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Foto: dpa/Paul Zinken

Das alles ist nicht neu, aber der Fußball weiß um seine Attraktivität und setzt darauf, dass die Leute trotzdem weiter zuschauen. Wir alle wissen, dass ein BigMac nicht unter den ansehnlichsten Bedingungen hergestellt wird, aber wenn wir ihn vor uns haben, können wir nicht widerstehen.

Mir selbst ging es jahrzehntelang nicht anders. Denn ich gehöre nicht zu jenen, die Fußball ohnehin schon immer blöd fanden und nun ihr Nicht-Gucken politisch veredeln können. 1990, mit sechs Jahren, habe ich mein letztes Auftaktspiel der Deutschen bei einer WM verpasst. Ich durfte nicht so lange aufbleiben und sah mir das 4:1 gegen Jugoslawien am nächsten Tag in der Wiederholung an. Es hat Weltmeisterschaften gegeben, da habe ich beinahe kein Spiel verpasst, da bin ich 1994 aufgestanden, um mitten in der Nacht Kolumbien gegen irgendwen zu schauen. 2014 habe ich nach Mario Götzes Tor gegen Argentinien im Finale so laut gejubelt, dass meine Mitguckerin mich tadelte.

Da war tiefe Liebe zwischen der Weltmeisterschaft und mir.

Doch schon damals rumorte es bei einigen Fans - die korrupte Fifa, die teuren Stadien in einem Land voller Armut. Seitdem wurde das Rumoren größer - die korrupte Fifa, die teuren Stadien, die Entscheidungen für nicht lupenrein demokratische Austragungsländer, und ich gehöre zu denen, die deshalb beschlossen haben: In diesem Jahr gucke ich nicht.

Ilija Trojanow, Schriftsteller wie Kehlmann, unterstützt mich darin. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagt er: „Wir müssen als Fußball-Konsumenten einfach aussteigen. Dann würde diese gigantische Geldmaschinerie zusammenkrachen, denn die funktioniert ja nur auf dem Rücken unserer Leichtgläubigkeit und unserer Treue.“ Keine Aufmerksamkeit gleich keine Möglichkeit, Geld zu verdienen.

Bei den ersten Spielen der WM fiel mir das noch nicht schwer. Eröffnungsspiel Russland gegen Saudi-Arabien. Als mein halbes Internet vom Spiel Spanien gegen Portugal schwärmt, kann ich mich noch so gerade zurückhalten. Gerne hätte ich gesehen, wie tapfer sich die Isländer gegen Argentinien schlagen, aber hey, ist doch nur Fußball. Und dann ist Sonntag. Bis fünf Uhr habe ich genug zu tun, um nicht daran zu denken, was um fünf Uhr ist. Und dann passiert es einfach. Das Spiel Deutschland gegen Mexiko wird angepfiffen, und ich habe kein Bewegtbild eingeschaltet.

Meinen Vorsatz, das Spiel in keiner Form zu verfolgen, breche ich allerdings schnell. Der finnische Krimi fesselt mich nicht arg und wie ein Alkoholiker auf Entzug erinnert mich mein Gehirn daran, dass ich doch nun eigentlich etwas anderes tun möchte. Ich gestatte mir einen Live-Ticker und die sozialen Netzwerke. Doch wenn einer nicht mitschaut, wirkt der hundertfach verbreitete Toranzeigen-Unfall des ZDF („Haha, da steht 3:0 für Deutschland... haha“) noch unlustiger. Spätestens in diesen Momenten spüre ich, dass ich nicht Teil von Schland bin. Meine Trauer hält sich in Grenzen. Es geht ja wirklich ohne WM.

Doch als ich vom Rückstand erfahre, zuckt es sofort. Das würde ich ja schon gerne sehen, wie Deutschland vielleicht wirklich zum ersten Mal in meinem Leben ein WM-Auftaktspiel verliert. 1:0 gegen Bolivien, 2:0 gegen die USA, 8:0 gegen Saudi-Arabien, 4:2 gegen Costa Rica, 4:0 gegen Australien, 4:0 gegen Portugal (für diese Aufzählung musste ich nur zweimal googeln) – und nun ernsthaft 0:1 gegen Mexiko? Ich bin eher belustigt als schockiert.

Gegen Ende des Spiels aktualisiere ich den Live-Ticker immer häufiger. Ein Teil von mir möchte, dass es beim Rückstand bleibt, ein Teil von mir weiß aber auch, dass Deutschland dann am nächsten Tag schlecht drauf ist und bis zum nächsten Spiel kein anderes Thema kennt. Als es dann passiert, bereite ich mir ein Abendessen zu, als sei nichts passiert. Am nächsten Tag merke ich, dass Deutschland gar nicht so schlecht drauf wirkt, wenn man selbst nicht so schlecht drauf ist.

Doch mein WM-Boykott lässt sich optimieren. Ich dachte ja doch die ganze Zeit an den rosa Elefanten. Noch einmal möchte ich Herrn Trojanow zitieren: „Zum Beispiel habe ich mir Restaurants ausgesucht, wo ich immer schon mal essen gehen wollte. Man bekommt leicht einen Platz. Es hat viele Vorteile, wenn man gegen den Strom schwimmt.“

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