Spieler brauchen mehr Selbstverantwortung Nur Reformen führen Deutschlands Fußball aus der Krise

Analyse | Düsseldorf · Zweimal in der Vorrunde der WM ausgeschieden, früh raus bei der EM - das ist kein Zufall. Beim DFB und vor allem in der Entwicklung der Spieler und ihrer Persönlichkeiten muss sich einiges ändern.

WM 2022, Einzelkritik: Costa Rica – Deutschland: die DFB-Elf in Noten​
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Costa Rica – Deutschland: die DFB-Elf in Noten

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Foto: AFP/INA FASSBENDER

Natürlich wird jetzt wieder gejammert. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft beklagt die Ungerechtigkeit der Schicksalskräfte, namentlich den fehlenden Beistand der Spanier in deren Gruppenspiel gegen Japan. Und Kapitän Manuel Neuer beteuerte tatsächlich trotzig: „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.“

Die Fans, die zu großen Teilen der Advents-WM in Katar die kalte Schulter zeigten, beklagen den Wankelmut ihrer Mannschaft, verblüffende defensive Schwächen und den seit Jahren anhaltenden Limbo-Tanz unter der Latte der eigenen Ansprüche her.

Im tiefen Tal der Krise wird nach dem dritten frühen Ausscheiden aus einem wichtigen Turnier in Serie nicht nur viel gejammert, es werden auch Fragen gestellt. Die erste ist ganz leicht zu beantworten. Sie lautet: Wann hat das alles angefangen, wo setzt der Absturz eines Fußballlandes ein, das ein natürliches Recht auf die Anwesenheit an der Weltspitze zu haben glaubt? Er beginnt am 13. Juli 2014 im Konfettiregen von Rio de Janeiro. Der Weltmeistertitel hat den klaren Blick vernebelt. Es war zwar niemand da, der wie Teamchef Franz Beckenbauer nach dem Triumph von 1990 laut festzustellen wagte, Deutschland sei nun auf Jahre hinaus unschlagbar, aber gedacht haben es doch viele.

DFB: Das sind die Tiefpunkte der deutschen WM-Geschichte
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Foto: dpa/Christian Charisius

Zwei Jahre darauf reichte es noch fürs Halbfinale bei der Europameisterschaft. Schon bei der Qualifikation für das Turnier in Frankreich aber hatte es im Getriebe ordentlich geknirscht. Und der damalige Bundestrainer Joachim Löw war längst auf dem Weg, in eine Umlaufbahn um sich selbst aufzubrechen. Am vermeintlich tiefsten Tiefpunkt vor vier Jahren in Russland war Löw nur noch entrückt. Die Mannschaft wurde als künstliches Produkt einer hemmungslosen Vermarktung wahrgenommen. Und der smarte Manager Oliver Bierhoff ließ die Kritik daran gekonnt an sich abperlen.

Ob es ihm diesmal gelingt, nachdem eine Auswahl von Großtalenten erneut noch vor Erreichen des Minimalziels gescheitert ist? Eine wesentlich offenere Frage. Bierhoff hat es in den ersten Minuten nach dem Ausscheiden zumindest mal wieder geschafft, die Verantwortung für das große Ganze anderen zu überlassen. Er sei „am Ende für die Organisation zuständig“, hat er gesagt. Das hat er wirklich gesagt. So, als sei er der Sachbearbeiter Teamreisen und Unterbringung in der Abteilung Nationalmannschaft und nicht der Geschäftsführer Nationalmannschaft und Akademie im größten Einzelsportverband der Welt. Dass er noch schnell seine Verdienste um den WM-Titel 2014 wenigstens im Nebensatz gewürdigt wissen wollte, ist nur schwer zu ertragen. Man müsse die gesamte Bilanz seiner 18 Jahre beim DFB sehen, erklärte er, aber auch, dass ihm nach drei Turnier-Schlappen in Folge die Argumente fehlten. Immerhin.

Der große Verband ist nicht nur in der Einschätzung der eigenen sportlichen Leistungsfähigkeit einem Missverständnis unterlegen. Er hat sich auch nach der (viel zu späten) Ablösung von Löw durch Hansi Flick von einer Fehleinschätzung leiten lassen. Die DFB-Spitze sah Flicks sieben Titel mit dem FC Bayern München und vergaß bereitwillig die gravierenden Unterschiede zwischen Vereins- und Verbandsarbeit im Training. Im Klub lassen sich die taktischen Feinheiten und die wesentlichen atmosphärischen Umstände in der täglichen Begegnung auf dem Trainingsplatz mit Weitblick herstellen. Beim Verband ist der Aufenthalt der Nationalspieler auf ein paar Tage beschränkt, die überdies durch allerlei Werbegedudel zerschreddert werden, damit es, wenn schon nicht im Tor der Gegner, dann zumindest in der Kasse klingelt. Darauf haben Trainer keinen Einfluss, und für Bierhoff sind es selbstverständliche Nebengeräusche.

„Deutschland erreicht beispiellosen Tiefpunkt“
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Foto: dpa/Federico Gambarini

Der Fußball gerät so leicht aus den Augen. Und er lässt sich nicht durch Knopfdruck reformieren. Erstens, weil die Einsicht in entscheidende fußballerische Unzulänglichkeiten (Abwehr, Außenverteidiger, Sturmzentrum) in Ausbildungs-Prozesse münden müssen, die Jahre dauern. Zweitens, weil die Fußballlehrer arme Kerle sind, die mit der über so lange Zeit herangebildeten Eliteklasse von Spielern zu tun haben. Die Spieler beherrschen das große Einmaleins aus Verschieben, Pressing und abkippenden Achtern.

Aber sie können auch herrlich gleichgültig, völlig ohne inhaltliche Gemeinsamkeit und Konzentration aus Spielen aussteigen. Ihnen fehlt die (Achtung: großes Wort) Tugend, die Fußballmannschaften zu großen Fußballmannschaften macht: die Selbstverantwortung.

Deshalb müssen Reformen nicht nur bei geduldiger Arbeit auf dem Trainingsplatz ansetzen. Sie müssen auch das Paket der Rundum-Sorglos-Versorgung bereits für 15-, 16-Jährige in den Leistungszentren der Bundesligisten betreffen. Und wer sie betreibt, der darf selbstverständlich nicht nur bis in den Sommer 2024 zur Heim-EM schauen. Da ist schon jetzt wieder die schillernde Selbstinszenierung zu befürchten, die den Graben zwischen Fans und dem wichtigsten Produkt der Firma DFB aufgeworfen hat.

Wer reformieren will, und an der Notwendigkeit ist ja nicht zu zweifeln, der muss Konzepte zur Persönlichkeitsförderung entwickeln, mehr Freiheit von am Laptop vorgezeichneten Wegen geben und den Mut zur Anerkennung der Autorität eines Einzelnen in der Gruppe haben.

Danach können ja wieder Werbefilmchen gedreht werden.

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