Mythos als Turniermannschaft verloren Was das Aus in Katar über Deutschland verrät

Analyse | Düsseldorf · Im Spiel eines Nationalteams spiegelt sich oft, wie eine Gesellschaft sich selbst sieht. Das Aus in Katar hält also ein paar bittere Erkenntnisse parat. Doch auch Grund zur Hoffnung.

 Ein Fan der deutschen Mannschaft nach dem Aus bei der WM 2022 in Katar.

Ein Fan der deutschen Mannschaft nach dem Aus bei der WM 2022 in Katar.

Foto: dpa/Christian Charisius

Natürlich ist Fußball mehr als ein Spiel. Auch wenn man nach dem erneuten Ausscheiden des deutschen Teams in der Gruppenphase einer Weltmeisterschaft am liebsten mit den Schultern zucken, die verkorkste WM in Katar abhaken und den Sport Sport sein lassen würde. Doch spätestens seit dem ersten deutschen Weltmeistertitel 1954 – seit den Tor!-Tor!-Tor!-Rufen von Bern, dem ersten Jubel nach dem Zweiten Weltkrieg – ist Fußball hierzulande nicht nur ein Sportereignis. Es ist Spiegel deutscher Seele, Abbild nationaler Befindlichkeiten.

Was auf dem Platz geschieht, erzählt Geschichten, wird gedeutet, stellt Diagnosen – über uns selbst. Es geht um die Temperamente, Charaktere, Haltungen der Stellvertreter auf dem Platz. Es geht um den Geist im Team Deutschland, um Selbstbewusstsein und Arroganz, um Druck und Leistungswille. Das Konkrete wird gelesen als etwas, das fürs große Ganze steht. Am nächsten Tag wissen dann 83 Millionen Nationaltrainer alles besser. Und das nervt alle, die sich wirklich auskennen. Aber es zeigt eben auch, wie sehr Fußball alle angeht – und Anlass gibt, über viel mehr zu reflektieren, als den Sport.

Es ist also von Belang, wenn es nun in vielen Analysen heißt, das deutsche Team habe zu wenig Effizienz gezeigt. Unzählige Torchancen gingen knapp daneben, Ecken wurden erspielt, aber nicht verwandelt, der Ball war im Besitz der Mannschaft, aber ging zu selten rein. Und so heißt es am Tag danach, Deutschland habe den Anschluss an die Weltspitze verloren, sei nur noch graues Mittelmaß. Wer denkt da nicht an den Exportweltmeister, der gerade die Folgen seiner Abhängigkeiten zu Russland und China nur schwer in den Griff bekommt. An ein alterndes Industrieland, dem die Fachkräfte fehlen, das sich beim Gegensteuern aber schwertut und sich in ideologische Debatten verstrickt. An eine Tüftlernation, die akribisch Müll trennt und Hafermilch in den Kaffee kippt, aber sich schwertut, die Energiewende zu wuppen. Durch den Bau von Windrädern, Solaranlagen, Elektrozapfsäulen, die jetzt genehmigt werden müssten. Nicht in 18 Monaten. Vielleicht.

Am Ende zählt nämlich nie, was man beinah geschafft hätte, sondern was sich nüchtern verbuchen lässt. Wie auf der Anzeigentafel im Stadion. Das ist unerbittlich. Aber so ist es. Doch gibt es einen deutschen Hang, in Selbstmitleid zu verfallen, sich zugute zu halten, wie toll man früher war. Oder wie sehr man sich bemüht hat, und das mit Leistung zu verwechseln. Und diesen Hang gibt es eben nicht nur bei Fußballfunktionären, sondern auch jenseits des Rasens. Wenn es etwa von der Deutschen Bahn heißt, eigentlich sei das traditionsreiche deutsche Netz ja vielen anderen überlegen, nur im Moment der Krankenstand halt hoch oder der vorausfahrende Zug verspätet. Wir bitten um Entschuldigung! Dabei geht es nicht mehr um diese oder jene Verspätung, sondern um eine kaputtgesparte Struktur, der nur noch gewaltige Investitionen helfen können. Daran ändert auch ein 49-Euro-Ticket nichts. Doch Schwierigkeiten, die im System liegen, für die man also ran müsste an die eingefahrenen Strukturen, geht man nicht an. Da wirken die Beharrungskräfte – wie im Fußball.

Auch Deutschlands Verhältnis zur Jugend spiegelte sich in Katar tragisch auf dem Platz. Da sah man etwa den 19-jährigen Stürmer Jamal Musiala, wie er am Ende des Spiels gegen Costa Rica immer und immer wieder versuchte, das Ding noch reinzumachen. Wie er lief und lief und dribbelte und zauberte und schoss – ein Hochbegabter, alleingelassen von denen, die ihm die Erfahrung voraushaben. So ist es, wenn das Verhältnis zwischen den Generationen nicht stimmt, wenn eben kein gemischtes Kollektiv antritt, das gemeinsame Sache machen will, sondern Vertreter unterschiedlicher Altersgruppen, die glauben, sich gegeneinander behaupten zu müssen. In Deutschland wird in Jahrgängen gedacht. Jungen Generationen verpasst man Labels von x bis z. Man versucht ihr Verhalten als Merkmal ihrer Kohorte zu diagnostizieren – und wertet es in einem Atemzug meist ab. Dabei nährt diese misstrauische Wahrnehmung nur Klischees. Doch die Lust auf Zukunft ist hierzulande ohnehin schon länger einer defensiven Skepsis gewichen. Und damit ist auch das Zutrauen in die Jungen geschwunden. Stattdessen gibt es überfrachtete Erwartungen an einige wenige, die als absolute Überflieger herhalten müssen. Und das Spiel retten sollen.

Bleibt die Frage nach der Verantwortung nach dem Schlusspfiff. Auch da macht der Fußball vor, was viele auch im Job oder im privaten Umfeld erleben: Menschen verstecken sich hinter Sachzwängen und Funktionen, verschleiern ihren Anteil an Entscheidungen, wollen es nicht gewesen sein. Rhetorisch wird das in PR-geschulten Zeiten verbrämt mit Formulierungen wie: „Klar habe ich Fehler gemacht, da muss man nicht drumherumreden.“ Doch passiert dann genau das: Dann wird drumherum geredet. Das ist nicht nur Zeichen persönlicher Schwäche, sondern hat auch mit der Fehlerkultur in einem Land zu tun. Wenn Häme und Besserwisserei grassieren, gibt es keine ehrliche Fehleranalyse. Dann wird beleidigt und vertuscht. Und aus Verantwortung übernehmen wird die Abwehr von Beschuldigungen. Aus Fehlern lernen geht natürlich anders.

Deutschland konnte in Katar den Mythos der Turniermannschaft nicht mehr weiter nähren. Es war eine Erzählung, die im Land der Fans viel positive Energie verbreitet hat. Denn sie handelt davon, dass Teamgeist über Sololeistung steht und Konkurrenzdruck in Ansporn und Dynamik für eine Gruppe verwandelt werden kann. Die deutsche Mannschaft müsse wieder bei Null anfangen, heißt es jetzt. Und bis zur EM im eigenen Land habe sie nur noch 18 Monate Zeit. Vielleicht ist das eine Gelegenheit, mit mehr Demut in die nächste Vorbereitung zu starten. Was keine schwache, keine kleinlaute Haltung ist, sondern eine, in der ein Team wachsen kann. Spiel um Spiel. Und seinem Land zeigen kann, was geht.

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