WM-Tagebuch Wie der WM-Rekordhalter seinen Geburtstag im Café Puschkin feierte

Moskau · Robert Peters berichtet für die RP aus Russland von der WM. In seinem Tagebuch schreibt er über seine Erlebnisse abseits des Feldes. Zum Beispiel über den 80. Geburtstag des inoffiziellen WM-Rekordhalters im Café Puschkin.

Robert Peters berichtet für die RP aus Russland von der WM.

Robert Peters berichtet für die RP aus Russland von der WM.

Foto: Peters

Es gibt hässlichere Orte für eine Geburtstagsfeier. Aber wenn es der 80ste ist und noch dazu bei der 15. WM-Teilnahme, darf es getrost stilvoll zugehen.

Schöne Frage fürs nächste große Preisrätsel: Was haben ein französischer Chansonnier, eine deutsche Apotheke, ein Moskauer Restaurant, ein 80. Geburtstag und ein WM-Weltrekord gemeinsam? Beim früher mal legendären Radio Eriwan würde die Antwort so beginnen: „Im Prinzip nichts, aber ...“

Ich fang’ mal ganz von vorn an, Radio Moskau sozusagen. Es war einmal ein deutscher Apotheker, der vor ein paar hundert Jahren in Russland lebte. Nicht weit vom Kreml richtete er sein Geschäft ein. Das Haus, in dem er im Erdgeschoss fortan Medikamente verkaufte, gehörte einem Adligen vom Hof der Zarin Katharina, die man bald die Große nennen würde.

Von Lenins Grab ins Café Puschkin

Über die privaten Interessen des Apothekers ist wenig bekannt. Niemand weiß zum Beispiel irgendetwas über sein Verhältnis zur Musik. Bei Gilbert Bécaud ist das schon anders. Der französische Chansonnier war ein Star der 1960er Jahre, wegen seines Temperaments nannten ihn die bunten Prominentenblätter „Monsieur 100.000 Volt“.

Monsieur Bécaud war nicht nur in Frankreich sehr populär, er verkaufte seine Platten (so was gab es damals noch) auf der ganzen Welt – natürlich auch in Deutschland. So kam es, dass 1964 überall auf dem Globus das Lied von der „Nathalie“ auf dem Plattenteller lag. Bécauds Fans erfuhren in der deutschen Fassung von der Fremdenführerin, deren Charme ein Moskau-Besucher erliegt, als sie von der Oktoberrevolution erzählt. Und dann kommt‘s: „Ich dachte, dass wir, nachdem wir an Lenins Grab waren, ins Café Puschkin gehen würden.“

Lenins Grab haben in der Folge viele Musikliebhaber gefunden, die nach Moskau kamen, das Café Puschkin jedoch nicht. Das durfte nicht so bleiben. Gut 30 Jahre nach Bécauds Erfolg ließ ein Moskauer Gastronom die virtuelle Welt des Chansons in einem Restaurant zur Realität werden. Und Sie ahnen es schon: im Haus, das die Apotheke beherbergte. Die Einrichtung im Erdgeschoss baute er zur Bar um, die aussieht, wie eine Apotheke im 18. Jahrhundert so aussah. Drumherum ist viel dunkles Holz und barockes Mobiliar. Das passt prima in die Gegend, in der das alte Moskau mit seinen Brückchen, Palais und herrschaftlichen Häusern daran erinnert, dass es eine Zeit vor dem Plattenbau des real existierenden Sozialismus gab – und immer noch gibt.

Hartmut Scherzer ist WM-Weltrekordler

Jetzt kommt der Geburtstag ins Spiel. Im Café Puschkin nämlich feierte Hartmut Scherzer seinen 80. Geburtstag. Warum ich das weiß: Ich war dabei. Scherzer ist nicht nur ein unheimlich freundlicher Mann und ein großes Vorbild für alle Sportjournalisten, die ich kenne (also fast alle), sondern auch zumindest inoffizieller journalistischer WM-Weltrekordler. Von Ruhestand hält der kleine Mann aus Heusenstamm nämlich nichts. Er erlebt in Russland seine 15. WM als Berichterstatter. Als er anfing, waren die Bilder im Fernsehen noch schwarz-weiß, und ich ging ins dritte Schuljahr.

Heute bin ich selbst ein älterer Mensch, aus der Perspektive der 1960er ein uralter Mensch. Von WM-Weltrekorden bin ich weit entfernt, immerhin aber habe ich bei der ersten Teilnahme in Brasilien gleich den Titel gewonnen. Das hat nicht mal Hartmut Scherzer geschafft. Wenn ich bei den Teilnahmen noch gleichziehen will, müsste ich bis 2070 weitermachen, ich wäre dann 112. Und diese zuversichtliche Rechnung unterschlägt noch die Möglichkeit, dass Scherzer in vier Jahren tapfer durch den Wüstensand von Katar stapfen könnte. Ausgeschlossen ist das nicht.

Einstweilen befasst er sich allerdings ernsthaft mit dem Gedanken an das Leben als Pensionär. Zum ersten Mal in seinem Leben. Und es könnte durchaus sein, dass er künftig alle seine Geburtstage zu Hause feiert – selbst wenn irgendwo eine WM ist. Vielleicht legt er dann zur Feier des Tages Gilbert Bécauds „Nathalie“ auf den Plattenteller. Er weiß schließlich noch, wie die Dinger funktionieren.

(pet)
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