Fußball-Weltmeisterschaft 2018 Elf Dinge, die von der WM hängenbleiben

Düsseldorf · Neymars Schauspielkunst, Favoritensterben, Ballbesitz als Mythos – ein paar Themen werden die WM wohl überdauern.

WM 2018: Neymar wälzt sich theatralisch auf dem Rasen
47 Bilder

Neymar liefert nächste Flugshow

47 Bilder
Foto: AP/Thanassis Stavrakis

Nun ist sie schon wieder Geschichte, die WM. Was bleibt, ist ein Nachfolger Deutschlands als Titelträger und – ja, was eigentlich? Unsere Redaktion hat elf Themen zusammengetragen, die von diesem Turnier hängen bleiben dürften.

Schauspielerei

Er rollt und rollt und rollt. 13 Minuten und 50 Sekunden verbrachte Superstar Neymar in den ersten vier Spielen der Brasilianer in liegender Position. Fleißige Statistiker haben das erhoben. Beim Aus gegen Belgien brach er die 14-Minuten-Marke. Dass die Heftigkeit der gegnerischen Attacken von der dargebotenen Theatralik signifikant abwich, kostete Neymar Sympathien. Schlimmer noch: Spieler anderer Nationen nahmen sich ein Beispiel und versuchten ebenfalls einen Abschluss in Schauspielkunst zu erschleichen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Trend schnell wieder verschwindet.

Favoritensterben

Es begann ja schon vor der Endrunde. Dass die Niederlande gar nicht erst nach Russland fuhren, war ja mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte gar nicht mehr so überraschend. Aber Chile oder gar Italien? Deren Fehlen rüttelte dann doch auf, und dieser Trend setzte sich fort. Weltmeister Deutschland scheiterte bereits in der Vorrunde, noch dazu als Gruppenletzter, sein Vorgänger Spanien, Portugal und Argentinien mit den Weltfußballern Cristiano Ronaldo und Lionel Messi folgten im Achtelfinale, Brasilien in der Runde der letzten acht. Nie zuvor bei einer WM kamen so wenige Topfavoriten im Halbfinale an.

Kein russischer Stempel

Aus 2014 sind die Bilder noch im Kopf. Ganz Brasilien feierte bis zum Halbfinal-Aus in Gelb-Grün, als wäre die WM ein vierwöchiger Fußball-Karneval. Und wenn heute im Radio das Lied „Wavin‘ Flag“ vom afrikanischen Sänger K’Naan anklingt, erinnert das gleich an die WM 2010 in Südafrika. Allein das Wort Vuvuzela reicht, um Phantom-Ohrenschmerz zu spüren. Die DNA einer WM kann auf dem Platz entstehen oder daneben. Aber Russland? Kein bestimmtes Bild oder russisches Lied, dafür viel (politische) Show. Gefühlt fehlt dieser WM die Identität.

WM 2018: Kroatische Spieler bejubeln den Finaleinzug
14 Bilder

Kroatische Spieler bejubeln den Finaleinzug

14 Bilder
Foto: REUTERS/CARL RECINE

Fußball und Politik

Eine WM ist immer eine ziemlich gute Gelegenheit für Politiker, ein paar Dinge geradezurücken. Bei Wladimir Putin ist allerdings nicht mehr viel Bewegungsspielraum. Und so machte er es besonders geschickt und drängelte sich bewusst nicht in den Vordergrund. Das Problem: da die TV-Bilder im Stadion und einem begrenzten Bereich auch darum zum Großteil von der Fifa gesteuert werden, kann man sich nicht sicher sein, welche Wirklichkeit abgebildet wird. Die russische Propagandamaschinerie kann mit ihrer Arbeit sehr zufrieden sein. Themen wie Menschenrechte, Korruption, Homophobie wurden nur ganz am Rande gestreift.

Was im TV zu sehen war

Bei der ARD hatte man sich wohl fest vorgenommen, jeden unter Vertrag stehenden Sportreporter vor der Kamera einzusetzen. Und so konnte der Zuschauer erleben, wie Moderator A an Moderator B weiterleitete, der freudig erregt Reporter C ankündigte, der weitergab an Interviewer D. Alles in allem zu viel Verpackung für zu wenig Inhalt. Das ZDF hatte in Christoph Kramer den besseren Experten und diesmal leicht die Nase vorn. Bei beiden öffentlich-rechtlichen Sendern wurde die neueste Technik nicht über Gebühr eingesetzt. Die ARD vernachlässigte die Visualisierung von Spielsystemen fast vollends, das Zweite probierte zwar aus, war sich seiner Sache aber wohl selbst nicht so sicher. Insgesamt deutlich Luft nach oben. Unangenehm war die Tatsache, dass die ARD hauptsächlich Experten (Stefan Kuntz, Philipp Lahm, Thomas Hitzlsperger) beschäftigte, die direkt oder indirekt für den DFB arbeiten.

Keine Ausschreitungen

Hooligans und große Fußballturniere sind untrennbar miteinander verbunden. Eigentlich. In Russland blieben größere Krawalle gänzlich aus. Nun könnte man vermuten: Vielleicht wurden die Ausschreitungen auch nur nicht im TV gezeigt. In Zeiten von Smartphones ist es aber schwer vorstellbar, dass die sensationslüsterne Meute einfach darauf verzichtet hat, Schlägereien zu filmen. Vielmehr ist der These Glauben zu schenken, dass die Fan-ID und die Angst vor Gewahrsam im russischen Gefängnis Wirkung gezeigt haben.

Fußball-WM 2022 Katar meiste Tore: Die Torschützenliste
29 Bilder

Die besten Torjäger der WM 2022

29 Bilder
Foto: AP/Luca Bruno

Generalverdacht Doping

Vor der WM äußerte eine ARD-Dokumentation Dopingverdächtigungen gegen Spieler der russischen Nationalmannschaft. Und als die Russen im Turnier mit herausragenden Laufleistungen aufwarteten, guckte die Welt plötzlich aufmerksam hin, dass manche Einwechselspieler Ammoniak schnüffelten und ein Stürmer eine Einstichstelle in der Armbeuge aufwies. Positive Dopingfälle gab es bei der WM – erwartungsgemäß – keine. 54 Kontrollen gab es – bei bislang 62 Spielen und 736 Spielern. Und die Kontrollen führte die Fifa alle selbst durch, nicht etwa die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada).

Schiedsrichterleistungen

Rückblick in den Sommer 2017: In der Bundesliga wird der Videobeweis eingeführt. Die Folge: viele Fehlentscheidungen und nicht enden wollende Diskussionen um die Schiedsrichter – die teilweise seit Jahren auf internationaler Bühne pfeifen. Sprung in den Sommer 2018: Auch bei der Fußball-WM wird erstmals auf den Videobeweis zurückgegriffen. Doch was zu befürchten war, bleibt aus. Laut Fifa wurden durch die Hilfe der Videoschiedsrichter 99,3 Prozent der Entscheidungen richtig getroffen. Aber nicht nur die Technik hat sich beim Turnier bewährt – auch die menschlichen Referees haben eine tolle Leistung gezeigt. Es lag nicht nur am Videobeweis, dass über ihre Entscheidungen kaum diskutiert werden musste.

Keine bedeutenden Ausfälle

Es braucht sie niemand, und doch gehörten sie bei vergangenen großen Turnieren stets dazu – die Ausfälle der Topstars durch Verletzungen oder Sperren. Wer erinnert sich nicht noch an die Staatstrauer in Brasilien, als der damals noch nicht beim leisesten Windhauch stürzende Neymar das Halbfinale verpasste? Wegen eines Bruchs des dritten Lendenwirbels erlebte Brasiliens zentrale Figur das 1:7 gegen Deutschland nicht mit. Ronaldo schied im EM-Finale 2016 früh verletzt aus, und gleich zweimal litt die DFB-Auswahl unter den Ausfällen wichtiger Säulen. 2002 fehlte Kapitän Michael Ballack im Finale wegen einer Gelbsperre, vier Jahre später war Torsten Frings aufgrund einer nachträglichen Sperre aus dem Argentinien-Spiel im Halbfinale nicht dabei. Zumindest Gelbsperren gibt es heutzutage wegen der Streichung aller Verwarnungen nach dem Viertelfinale nicht mehr. So mischten diesmal die ganz großen Namen durchgängig mit – und konnten das Favoritensterben dennoch nicht verhindern.

Mythos Ballbesitz

Irgendwann in den späten 1990ern entdeckte ein Spanier eine tiefe Weisheit. Sie lautete: Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen. Und so wurde dann gespielt. Weil sich zwischendurch auch mal ein Ball im gegnerischen Tor verirrte, gab es sogar häufig Siege. Der Ballbesitz-Fußball war fortan das taktische Zaubermittel, ein großer Anhänger war auch Bundestrainer Joachim Löw. Seit die Zuschauer beim WM-Turnier in Russland reihenweise schlafend von den Sitzen fielen, weil die Ballbesitz-Teams den Vorwärtsgang ausgeschaltet hatten, ist die Taktik aus der Mode. Zum Glück.

Kein neuer Mega-Star

Die Wahl zum „Spieler der WM“ ist offen wie nie. Das Turnier war zwar prädestiniert für Heldengeschichten. Andres Iniesta (34), legendärer Mittelfeldregisseur, hätte das bei seiner letzten WM sein können. Doch Spanien schied wohl zu früh aus, genau wie die „Ein-Mann-Teams“ Portugal und Argentinien (Achtelfinale), in denen Cristiano Ronaldo bzw. Lionel Messi, der beste WM-Spieler 2014, kaum Zeit hatten, zu glänzen. Große Fairplay-Gesten gab es auch nicht. Und Neymar spielte lieber den sterbenden Schwan. Schade!

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort