Friedensrede beim G20-Gipfel Infantinos Staatsmann-Parodie ist ordinär

Meinung | Düsseldorf · Gianni Infantino gelingt beim G20-Gipfel auf Bali die fast perfekte Parodie eines Staatsmannes. Der Fifa-Chef spielt sich als politischer Weltenlenker auf und scheint jedes Augenmaß verloren zu haben. Die nächste Wahl wird er so allerdings gewinnen.

Fifa-Präsident Gianni Infantino beim G20-Gipfel auf Bali.

Fifa-Präsident Gianni Infantino beim G20-Gipfel auf Bali.

Foto: dpa/Leon Neal

Die Wirklichkeit hatte schon immer die blühendste Fantasie. Nachfolgende Generationen dürften dereinst Anschlussfragen haben, wenn man versuchen wird, ihnen zu erklären, dass zwei der einflussreichsten Nationen der Welt zwischenzeitlich Figuren wie Donald Trump und Boris Johnson unter Hunderten Millionen als die geeignetsten Personen für die Position des Regierungschefs identifiziert haben. Es empfahl sich in diesem jungen Jahrtausend häufig, zweimal hinzusehen, ob gerade der Comedykanal oder ein Nachrichtensender lief.

Beinahe rückstandslos verunmöglicht, zwischen Wirklichkeit und Fiebertraum zu unterscheiden, haben in diesen bunten Zeiten der Weltfußballverband Fifa und ihr Präsident Gianni Infantino. Man vergisst beinahe, wie haarsträubend es ist, dass ein Fußballfunktionär mit aufgekrempelten Hemdsärmeln beim G20-Gipfel im Schwitzkasten Balis vor den einflussreichsten Regierungschefs dieser Welt ein Podium bekommt. Infantino, jedes Selbstzweifels unverdächtig, nutzt die Bühne, um nichts weniger als einen Waffenstillstand in der Ukraine und, was soll’s, gleich der ganzen Welt anzuregen. Anlässlich, jetzt kommt’s, der Fußball-WM in Katar. Jenem Turnier, das das vermeintlich Unmögliche vollbracht hat, dass sich weite Teile der Fußballfans in aller Welt angeekelt wegdrehen, während das Hochamt ihres Sports zelebriert wird. Als wäre Um-die-Wette-Fußballspielen nicht bereits ein restlos unverschämt profaner Anlass für eine Waffenruhe in einem Konflikt, der täglich Menschenleben fordert, soll also ausgerechnet die Fußball-WM in Katar zum Friedensgipfel verklärt werden.

Statt im Büßergewand bei der G20 aufzutauchen und darüber zu sprechen, wie man es zulassen konnte, dass Tausende für dieses Turnier gestorben sind, kam Infantino als Staatsmann. Diese Parodie gehörte zumindest zu dem Glaubwürdigsten, was man von dem 52-Jährigen gesehen hat. Dass die echten Staatenlenker jenen Infantino derart unverfroren über das Weltgeschehen fabulieren lassen, den mit Wladimir Putin so etwas wie eine Männerfreundschaft verbindet, und dem es noch immer nicht gelang, ernsthafte Kritik an Russlands Rolle in dem Konflikt zu formulieren, ist ein grobes Versäumnis.

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Dass Infantino selbst Gelegenheiten zur wenigstens vordergründigen Imagepflege in der Regel ungenutzt vorbeiziehen lässt, darf dafür keine Entschuldigung sein. Ob er davon fantasierte, welche Wertschätzung den Gastarbeiter in Katar durch ihre lebensgefährlichen Jobs zuteil würde oder nahezu körperverletzende Fremdscham verursachte, als er vergeblich versuchte, Volunteers der WM zu „Fifa, Fifa“-Sprechchören zu animieren. Dass Morbus Clemens Tönnies so umfänglich von Infantino Besitz ergriffen hat, erschreckt auch, weil er es doch eigentlich besser können müsste.

Als Nachfolger von Sepp Blatter, auf dessen Nummernkonto Kunstwerke wie die anstehende Katar-WM und ein nahezu rückstandslos korruptionsverwahrloster Weltverband gingen, hätte es Infantino kinderleicht gehabt, zu gewinnen. Für etwa zweieinhalb Stunden war deshalb sogar die ausgesprochen zwischenzeitliche Hoffnung mit ihm verbunden, dass bei der Fifa nun alles besser werden könnte. Allzu kurze Zeit später stellte sich bei Fußballfans die fortan nie mehr widerlegte Ahnung ein, die sich in etwa zusammenfassen lässt mit: der ist noch schlimmer. Infantino entpuppte sich als Mensch gewordene Briefkastenfirma, die - laut Medienberichten - inzwischen in Katar wohnhaft ist.

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Über derartige Verstrickungen wundert sich inzwischen genauso wenig mehr jemand wie darüber, dass auch die kommende WM in den USA, Kanada und Mexiko schon wieder mit Gerüchten über Mauscheleien mit Ex-US-Präsident-Trump versehen wird. Wer dabei so schamlos agiert wie Infantino, dem sollte man im besten Fall die Verantwortung, zumindest aber jede Bühne entziehen, die sich der Chef des Weltfußballs nicht selbst gebaut hat. Dass der 52-Jährige selbst davon zurücktritt, ist in etwa so wahrscheinlich wie plötzlich einsetzende Demut oder engere Kontakte zur Realität, zu der er ein inzwischen beinahe rivalisierendes Verhältnis entwickelt hat. Im März 2023 wird in Ruanda der neue Fifa-Präsident bestimmt. Infantinos Wahlsieg gilt als sicher. Das allein klingt zu verrückt, um nicht wahr zu sein.

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