Kritik, Boykott, Vorrunden-Aus Wie die Fußball-WM für Katar zum PR-Desaster werden könnte

Düsseldorf · Der Stellenwert der Fußball-WM lässt sich für das kleine Land Katar kaum hoch genug bewerten. Doch schon vor Turnierbeginn wird auch den Organisatoren allmählich klar, dass sie die Gefahren unterschätzt haben. Dem Emirat droht ein PR-Desaster.

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Foto: dpa/Alexander Hassenstein

Wenn am 20. November ein spitzer Pfiff im Al-Bayt Stadium in Al-Khor die Fußball-WM zu Katar eröffnen soll, muss Al-Kohol draußen bleiben. Bier, diese Minimalforderung konnte die internationale Fußballgemeinschaft den Gastgebern wenigstens abringen, gibt es vor und nach dem Spiel außerhalb des Stadions. Selbst wenn es in Katar Gepflogenheit wäre, feierliche Anlässe mit geistigen Getränken zu begehen, wäre den Gastgebern die Sektlaune aber wohl schon vor Turnierbeginn verflogen.

Wenige Tage, bevor dieses im internationalen Fußball weitgehend als unsäglich bewertete Turnier nun wirklich beginnt, stellt sich zusehends die Frage, was sich Katar eigentlich jemals von dieser WM versprochen hat. Bislang widmete sich die vielstimmige Kritik vorrangig der Frage, wie viele Korrektive versagt haben, dass der Weltverband das Hochamt des Fußballs in diesem Land abhalten wird. Werbefilme oder kritische Journalisten zeichnen in zwar höchst unterschiedlichen Geschmacksrichtungen ein in vielen Zügen doch erstaunlich deckungsgleiches Bild eines ostarabischen Wolfsburgs mit besserer Verkehrsanbindung und glitzernden Fassaden, mit allenfalls spärlichen Hinweisen auf so etwas wie eine Fußballgeschichte. Die Antwort auf die Warum-Frage ist dabei so vorhersehbar und unbefriedigend wie in einem Vorabendkrimi: Die geschmierten Mechanismen der Fifa funktionierten tatsächlich völlig zuverlässig und spuckten wie ein korruptionsprogrammierter Algorithmus mit entwaffnender Zwangsläufigkeit Katar als zynische Zustandsbeschreibung des zeitgenössischen Fußballs aus. Katar ist eine Diagnose und die einzig logische WM im Jahr 2022.

Wenn selbst der frühere Fifa-Präsident Sepp Blatter plötzlich zu vergleichsweise fundamentaler Selbstkritik anhebt und die WM-Vergabe als Fehler bewertet, kann man immerhin so lange ins Staunen kommen, bis Blatter einschränkt, dass der Zwergstaat ihm in erster Linie flächenmäßig ungeeignet als Ausrichter des größten Sportevents des Planeten scheint. Zahllose Fans, Klubvertreter und auch Spieler haben sich indes schon ein paar Seiten tiefer eingelesen und stellen fest, dass an dem häufig als fragwürdig etikettierten Gastgeberland herzlich wenige fragwürdig, dafür aber vieles offenkundig ist. Katar verstößt bei der Behandlung nahezu aller Menschen, die nicht heterosexuelle muslimische Männer sind, gegen international vereinbarte Mindeststandards des menschlichen Miteinanders.

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Foto: AFP/FRANCISCO LEONG

Dabei muss man auf der Hut sein, um Elendsszenarien auf den Stadionbaustellen nicht mit Aufnahmen aus den Anbauten deutscher Schlachtfabriken zu verwechseln, in denen sogenannte Gastarbeiter hierzulande zum Teil untergebracht werden. Ob sie dann Stadien oder die darin verkaufte Wurst herstellen, wird für sie von nachrangiger Bedeutung sein. Katar ist daher durchaus als Ausgangspunkt zur Selbstkritik geeignet, weist aber an vielen Stellen darüber hinaus. Eine in jedem Fall abscheulich hohe Zahl verstorbener Arbeitsmigranten, die beim Bau der Infrastruktur dieser WM gestorben sind, hat das Emirat weiterhin exklusiv.

Man muss gleichsam aufpassen, um die unabdingbare Dauerkritik an Katar nicht zu einem grundsätzlichen Unbehagen gegenüber der arabischen Welt auswachsen zu lassen, die moralkonservativen Hardliner in Katar nicht mit dem Islam zu verwechseln. Auch sollte man Hinweise auf die vielfältigen Verflechtungen wirtschaftlicher und politischer Natur mit Staaten allzu ähnlicher Bauart nicht gleich als Ablenkungsmanöver abtun. Diese Widersprüche auch an anderen Stellen sichtbar zu machen, dazu sollte Katar geradezu dienen und das funktioniert für sich genommen prächtig. Immerhin müssen sich nicht nur das Turnier, sondern auch Sponsorenverträge wie der des FC Bayern mit Qatar Airways immer profunderer Kritik erwehren. So euphorisch die Fifa am 2. Dezember 2010 Katar als verfrühte Silvesterrakete mit der Verheißung losgelassen hat, dass die arabische Welt nun endlich - und durchaus überfällig - eine Fußball-WM bekommt, so gründlich lädiert steckt der Flugkörper inzwischen mit dem Spitze im Sand.

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Foto: Sandra Hoever/ZDF

Die jüngste Episode einer besorgniserregenden Zustandsbeschreibung äußerte sich darin, dass der Mann, den die Veranstalter als besonders geeignet dafür identifiziert haben, als WM-Botschafter zwischen einer kritischen Öffentlichkeit auf der einen und der Fifa nebst Katar auf der anderen Seite zu vermitteln, sich als verhaltensauffälliger Vorgestriger einführte und in einem ZDF-Interview Homosexuellen einen „geistigen Schaden“ anzudichten versuchte. In einem Land, in dem Homosexualität noch immer strafbewährt ist, keine eigentliche Überraschung. Dass einer, der idealerweise als Diplomat auftreten sollte, aber schon mit Würfeln zum verbalen Schachspiel mit deutschen Medien auftaucht, um anschließend das ganze Brett umzuwerfen, gewährt tiefe Blicke unters dünne Nervenkostüm. Es ist kaum noch anzunehmen, dass Katar an dieser WM viel Freude haben wird.

Vor dem 2. Dezember 2010 lag das Land im Seitenspiegel des globalen Westens in einem blinden Fleck, den das Emirat inzwischen als regelrechten Sehnsuchtsort empfinden dürfte. Katar ist beim Versuch gescheitert, ein Image aufzupolieren, das es niemals hatte. Für weite Teile der Weltöffentlichkeit wurden durch den Erwerb der Fußball-WM erst Restzweifel daran beseitigt, ob Katar überhaupt ein eigenständiges Land ist. Über das Kleingedruckte hat der Gastgeber dabei aber ein politisches Stellvertrerturnier miterworben. Von Menschenrechten, Gleichberechtigung, kriegerischen Konfliktlinien bis zum Klimawandel werden die großen Dramen dieser Tage auf der kleinen Schaubühne eines Staats verhandelt, der nicht mal halb so groß ist wie Mecklenburg-Vorpommern.

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Foto: dpa/Hassan Ammar

Und der Protest hat einen für die Organisatoren unangenehm langen Atem. In Deutschland wird der Konflikt inzwischen nicht mehr nur in eitlen Talkshow-Zanks zwischen „Katar-Lobbyisten“ (Andreas Rettig über Uli Hoeneß) und „Überzeugungstätern in Sachen Menschenrechte“ (Andreas Rettig über Andreas Rettig) verhandelt. Oder darin, dass Andreas Rettig die WM – zumindest bis auf die deutschen Spiele – nicht schauen möchte. Selbst dass neben dem früheren DFL-Geschäftsführer eine zusehends wahrnehmbare Zahl deutscher Fußballfans mit sinnbildlich erhobener Fernbedienung damit droht, bei den Spielen einfach wegzuschauen oder womöglich sogar abzuschalten, muss einen nicht in Sorge um die Nachtruhe der katarischen Veranstalter versetzen.

Spätestens aber sollte das Organisationskomitee das nahezu rückstandslose Ausbleiben jeder Vorfreude oder gefälliger Berichterstattung in den großen Fußballnationen umtreiben. Kaum jemand, der bislang die unbeschreibliche Gastfreundschaft beworben hätte, die für deutsche Staatsangehörige ja gewohnheitsmäßig unmittelbar nach Überqueren einer Landesgrenze einsetzt, keine Schwärmereien von überwältigenden Landschaften, modernen Hochhausbauten an den Küstenstädten, der tollen Infrastruktur oder architektonisch beeindruckenden Stadien. Dazu haben die Veranstalter schlichtweg übergangen, dass neben der entwicklungsfähigen Fußballkultur im eigenen Land in vielen anderen Teilnehmerländern Winter herrscht und die WM als Gipfel zuvor bereits unzumutbarer Unverfrorenheiten des Profifußballs wahrgenommen wird. Ein gelungenes PR-Event ist für Katar in etwa so wahrscheinlich wie ein Finaleinzug des Gastgeberteams, dessen Marktwert insgesamt auf etwa 19 Millionen Euro geschätzt wird – etwas weniger als beispielsweise Odilon Kossounou von Bayer Leverkusen. Auch sportlich fehlt also jedes Fundament, auf dem sich die Hoffnung auf ein katarisches Wintermärchen begründen ließe.

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Foto: dpa/Sven Hoppe

Allen, die sich freiheitlichen Werten verpflichtet fühlen, dürfte es zudem im besten Fall ein Anliegen sein, an jeder dazu geeigneten Stelle das Protokoll zu unterlaufen, verbal über die Ränder der ihnen vorgelegten Ausmalschablonen zu kritzeln und noch drei Regenbogensticker auf der Toilette anzukleben. Das aus katarischer Perspektive beste Szenario ist das betretene Stillhalteabkommen, zu dem die Fifa bereits öffentlich aufgerufen hat. In dem die Fußballspiele, die das Event flankieren, hoffentlich genug sportlich Erzählenswertes abwerfen, damit die Gastgeber halbwegs unbemerkt davonkommen. Der Plan, dass sich Katar mit einer Fußball-Weltmeisterschaft reinwaschen kann, ist zumindest nicht aufgegangen. Potenzielle Ausrichter von Folgeturnieren mit ähnlicher Staatsarchitektur dürften dabei genau zusehen – und die Fußballwelt vielleicht kein zweites Katar erleben.

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