Proteste in Brasilien Dilma Rousseff steht vor einer Wand der Wut

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wirkt ratlos. Die Massenproteste haben sie kalt erwischt. Zwei Jahrzehnte lang surfte das Land auf dem wirtschaftlichen Erfolg, Demonstrationen blieben eine Randerscheinung. Doch unter dem Speckmantel hat sich Wut auf "die da oben" angestaut. "Keine Parteien", lautet der Schlachtruf.

 Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wirkt ratlos.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wirkt ratlos.

Foto: dpa, Mario Cruz

Anfang Juni begann es. Die Auslöser der ersten Unruhen waren vergleichsweise profaner Art: Es ging um ein paar Cent. Nach einer Erhöhung der Fahrpreise für Busse und U-Bahn in Sao Paulo, Rio de Janeiro und anderen Städten schaukelte sich die Wut hoch und kulminierte in Massenprotesten auf der Straße. Ausgerechnet vor der Fußball-Weltmeisterschaft, einem sportlichen Großereignis, das doch sonst so leicht gesellschaftliche Krisenstimmung übertünchen kann.

Nicht so im sonst fußball-verrückten Brasilien. Im Gegenteil: Die Demonstrationen weiteten sich aus. In vielen Städten sind seit Montag Hunderttausende auf den Straßen, immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen Polizei und kleineren Gruppen von Demonstranten. "Es geht nicht mehr wirklich um den (Fahr-)Preis", sagte eine Demonstrantin, die 18-jährige Studentin Camila Sena. "Die Leute ekelt das System an, sie sind es so leid, dass sie eine Veränderung verlangen."

Sie haben genug

Ihre Stimme steht für den Frust, der sich in den vergangenen 20 Jahren unter dem Mantel des wachsenden Wohlstands breit gemacht hat. Die Motive dafür sind unterschiedlicher Art. Einige hat das Wachstum nicht erreicht. Andere haben mit wirtschaftlichem Wohlstand neue Ansprüche an gesellschaftlicher Teilhabe entwickelt.

Auch sie haben genug von Steuererhöhungen, dem miserablen Zustand von Schulen und Krankenhäusern bis hin zu monströsen Regierungsausgaben für die Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016. Gerade im Schatten der Großereignisse hat sich die Korruption in Bauwirtschaft und Politik bisher unbekannte Ausmaße angenommen.

Die Abgabenlast ist hoch, nach offiziellen Angaben betrug die Steuerbelastung 36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Damit rangiert Brasilien weltweit auf Rang zwölf, was die Höhe angeht. Auch das Bildungssystem ist alles andere als erfolgreich. In einem internationalen Vergleich der Sprach- und Mathematikkenntnisse von 15 Jahre alten Schülern mit 65 Ländern belegte Brasilien den 53. Rang - hinter Bulgarien, Mexiko oder auch Trinidad und Tobago.

Die Präsidentin umgarnt den Protest

Die Menschen im Land werfen der Regierung vor, dass das Geld aus dem Wirtschaftsaufschwung in dunklen Kanälen verschwindet oder für prestigeträchtige Projekte verpulvert wird. Umgerechnet 13,3 Milliarden Dollar (rund zehn Milliarden Euro) wurden für den Bau oder die Renovierung von Stadien und Flughäfen für die Fußball-Weltmeisterschaft ausgegeben. Allein der Umbau des legendären Maracana-Stadions in Rio schlug mit 500 Millionen Dollar zu Buche - obwohl die Arena erst 2007 für die Panamerikanischen Spiele umfassend renoviert worden war. Die Kosten für die Olympischen Spiele in Rio im Jahr 2016 werden auf 12 Milliarden Euro beziffert.

Erste Erfolge hatten die Proteste bereits. In mehreren Städten haben die lokalen Regierungen die Fahrpreiserhöhungen wieder zurückgenommen. Präsidentin Dilma Rousseff bemühte sich gar, sich an die Spitze der Protestbewegung zu setzen, obwohl sie sich gegen ihre eigene Regierung richten. Brasilien sei "aufgewacht", sagte sie. Die Proteste zeigten die Stärke der Demokratie in Brasilien. Die Stimmen auf der Straße müssten gehört werden. Es sei gut, so viele Jugendliche und Erwachsene zu sehen, die mit Brasiliens Flagge in der Hand und der Nationalhymne auf den Lippen für ein besseres Brasilien eintreten.

"Keine Parteien", rufen sie

Doch offensichtlich verfängt das nicht. Die Wut, die sich nun entlädt, hat eine eigene Dynamik angenommen. Parallel zu ihren Beschwichtigungen entsandte die Regierung paramilitärische Spezialeinheiten in fünf der sechs Austragungsorte des FIFA Confederations Cup, nämlich die Hauptstadt Brasilia, sowie Rio de Janiero, Fortaleza, Salvador de Bahia und Minas Gerais. Die Truppen der "Fuerza Nacional" sollen die Sicherheit bei den Spielen verbessern, teilte das Justizministerium mit. Die Provinzregierungen hatten um die Unterstützung gebeten. Die Entsendung der Einheiten habe aber nichts mit den Protesten zu tun, heißt es offiziell.

Doch die Verunsicherung der Politik ist mit Händen zu greifen. Derzeit deutet nichts darauf hin, dass ihre Maßnahmen die Lage irgendwie beruhigen könnten. Zu groß ist die Unzufriedenheit, die über Jahre angewachsen ist und die sich jetzt Bahn bricht. Ziel des Ärgers ist nicht nur die herrschende Regierung. Der Zorn richtet sich gegen das gesamte politische System. "Keine Parteien" ist ein Schlachtruf, den man derzeit immer wieder auf den Demonstrationen hört.

Rousseff wirkt ratlos

"Ich erwarte mir von den Protesten, dass die regierende Klasse zu der Einsicht kommt, dass wir das Sagen haben, nicht sie. Die Politiker müssen lernen, uns zu respektieren", sagt die 22 Jahre alte Yasmin Gomes bei der Demonstration in Sao Paulo.

Präsidentin Dilma Rousseff wirkt ratlos. Die frühere linke Widerstandskämpferin, die während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 selbst im Gefängnis saß und gefoltert wurde, lobt zwar die Proteste, weil sie wichtige Fragen thematisierten und damit die Demokratie förderten. "Brasilien ist heute stärker aufgewacht als zuvor", erklärte sie nach den Protesten. Doch was sie gegen die Unzufriedenheit unternehmen will, die sich zu einem großen Teil gegen ihre Regierung richten, lässt sie offen.

Parallelen zur Türkei

Die Proteste werfen auch die Frage auf, ob das Land bei den anstehenden Großereignissen für ausreichend Sicherheit sorgen kann. Derzeit läuft der Confederations Cup, die Generalprobe für die Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr. Zwei Jahre später finden in Rio die Olympischen Spiele statt. Und bereits kommenden Monat besucht Papst Franziskus das Land.

Ähnlich wie bei den Protesten in der Türkei richtet sich der Zorn auch gegen die Medien, denen die Demonstranten eine parteiliche Berichterstattung vorwerfen. So habe der Sender Globo TV keine Bilder von dem massiven Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten gezeigt, kritisieren sie. Wenn jetzt ein Globo-Hubschrauber über den Demonstranten kreist, werden tausende Fäuste drohend gen Himmel gehoben, und die Demonstranten skandieren Sprechchöre gegen den Sender.

Die Anwältin Agatha Rossi de Paula, die zusammen mit ihrer Mutter an den Protesten in Sao Paulo teilnahm, nennt die brasilianische Finanzpolitik beschämend. "Wir wollen das Geld, das wir als Steuern bezahlt haben, zurück - in Form von Gesundheitsvorsorge, Bildung und Nahverkehr", sagt die 34-Jährige. "Wir wollen, dass uns die Polizei beschützt. Wir wollen, dass den Menschen geholfen wird, die ohne Job und Geld auf der Straße leben."

(sid/dpa/AFP/AP/pst)
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