Deutsches Team bei der WM Vorsicht vor Grüppchenbildung

Moskau · Im DFB-Team gibt es die Arrivierten und die Nachrücker. Es gilt, einen Konsens zu finden. Nach der Auftakt-Pleite gegen Mexiko hat die Nationalmannschaft mehrere Krisengespräche geführt.

EM 2021: Kader von Deutschland bei der Fußball-Europameisterschaft - Übersicht
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Das ist der deutsche Kader für die Fußball-EM 2021

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Foto: dpa/Stefan Constantin

Über dem Luxusressort geht dick und rot die Sonne auf. Die Gischtkronen der Wellen zischen rosa an den Strand. Joachim Löw joggt in die aufgehende Sonne – und selbstverständlich fängt ganz zufällig die Kamera diese Idylle ein. Solche Bilder begründen den Mythos vom Campo Bahia, dem Rückzugsort der deutschen Mannschaft vor vier Jahren in Brasilien, der nachher so wichtig für den Titel war wie Schweinsteiger und Podolski. Hier, so heißt es später, wuchs ein Team zusammen.

Es ist längst vergessen, dass so mancher Spieler bei der Fahrt mit der rostigen Fähre über den Rio Joao de Tiba ratlos ins trübe Wasser blickte und hinter vorgehaltener Hand motzte über das Quartier am Ende der Welt. Teammanager Oliver Bierhoff, der Quartiermeister der Nationalmannschaft, kennt die Vorabnörgelei. „Das ist immer so“, sagt er, „vor acht Jahren in Südafrika waren es die Frösche, im Campo Bahia die Fähre, nun ist es der Wald.“ Dieser Wald liegt südwestlich von Moskaus Innenstadt im Vorort Watutinki. In diesem Wald liegt ein zum Hotel umgebautes ehemaliges Erholungsheim. Und es gibt natürlich kein Meer und keinen Strand für Löws Frühsport.

Es gibt auch sonst nicht so viele Ablenkungsmöglichkeiten für die 23 Spieler, und den puren Luxus erleben sie in Watutinki auch nicht. Löw sagt deshalb: „Es hat den Charme einer guten, schönen Sportschule.“ Bierhoff findet das Wort von der Sportschule „gar nicht so schlecht. Wegen Sport sind wir schließlich hier. Viele Dinge passen, wir haben zum Beispiel ein schönes Wohnzimmer eingerichtet, so dass wir als Gruppe zusammenkommen“.

Denn darum geht es: Die Mannschaft soll sich finden und nach Möglichkeit keinen Lagerkoller bekommen. Vorsichtshalber geben die Vorsprecher bereits vor, den Teamgeist von Watutinki längst entdeckt zu haben. „Der Teamspirit stimmt“, sagt Löw, „wir haben eine gute Energie.“

Daran darf gezweifelt werden. Mats Hummels hat mit seiner öffentlichen Kollegenschelte nach dem verpatzten Auftakt gegen Mexiko (0:1) die Woche vor dem zweiten Gruppenspiel (gegen Schweden) eröffnet. Es hat Mannschaften gegeben, die sich in solchen Situationen gefunden haben. Die 1974er-Weltmeister, die sich nach dem 0:1 gegen die Auswahl der DDR zusammenrauften. Oder die Weltmeister von 2014, die nach dem Achtelfinal-Verlängerungssieg gegen Algerien ihre innere Struktur nach einer lauten Debatte fanden. Vor dem Abflug nach Sotschi am Dienstag hatte Manuel Neuer Einblicke in das derzeitige Innenleben der Nationalmannschaft gegeben.

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Reus bringt Belebung, Kimmich schwach

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Foto: AP/Eduardo Verdugo

Löw glaubt daran, dass sein Team diese Probe besteht. Er muss das glauben. Auf der Tagesordnung dieser inneren Auseinandersetzung könnten Probleme zwischen den Generationen im Team stehen. Es gibt die Gruppe der Arrivierten mit Hummels, Kapitän Manuel Neuer, Toni Kroos, Jerome Boateng, Sami Khedira, Mesut Özil und Thomas Müller. Und es gibt eine Gruppe der Nachrücker um Julian Draxler, Joshua Kimmich und Leon Goretzka, die beim Confed-Cup im vergangenen Jahr Eindruck gemacht haben. Sie werden genau hinschauen, was die Platzhirsche auf dem Rasen abliefern. Und es ist ihnen zuzutrauen, dass sie sich von Hummels nicht kollektiv belehren lassen wollen – ganz sicher nicht in aller Öffentlichkeit.

Spätestens seit Philipp Lahm vor acht Jahren den gern mal röhrenden Michael Ballack als Kapitän beerbte und die „flachen Hierarchien“ ausrief, lassen sich auch Nachwuchsspieler nicht mehr herumkommandieren. Hummels und die älteren Herrschaften bekommen es mit selbstbewusster Konkurrenz um die Meinungsführerschaft zu tun.

Führende Positionen werden sie nur behaupten können, wenn die Leistung stimmt. Das Auftaktspiel gegen Mexiko lieferte ihnen wenige Argumente. Und wenn das Team in Grüppchen zerfällt, könnte schnell eintreten, was Hummels im Moskauer Lushniki-Stadion an die Wand malte: „Dann ist es vorbei mit der WM.“

Es geht also auch darum, dass Hummels und Kollegen verantwortlich mit der Führungsrolle umgehen, die ihnen Löw zugedenkt. Natürliche Führungsfiguren wie einst Schweinsteiger und Lahm scheint es nicht zu geben, also muss der Trainer solche ernennen. Löw spricht von einem „Gerüst mit viel Erfahrung und Qualität“. Und er schränkt selbst ein: „Gegen Mexiko hat man davon nichts gesehen.“

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