Vor dem Schweden-Spiel Hoffen auf Reus

Sotschi · Gegen Mexiko saß der Dortmunder zunächst nur auf der Bank. Das wird sich am Samstag aller Voraussicht nach ändern. Eine ganze Nation baut auf seine Qualitäten.

Trainer Joachim Löw und Marco Reus beim Spiel gegen Mexiko.

Trainer Joachim Löw und Marco Reus beim Spiel gegen Mexiko.

Foto: dpa/Ina Fassbender

An das WM-Finale von 2014 hat Marco Reus noch eine ziemlich präzise Erinnerung. Er erlebte es auf der heimischen Couch und sah dort das 1:0 seines Kumpels Mario Götze im Fernsehen. Natürlich hat er sich gefreut. Aber „nach dem Spiel bin ich ins Bett gegangen“, sagt er. Dass Götze und die Kollegen nach der Siegerehrung sein Trikot mit der Nummer 21 in die Kameras hielten, bekam er nicht mehr mit. Später schrieb er auf Twitter im internationalen Gangslang der Großsportler: „Danke, Bro!“ – Danke, Bruder!

Reus‘ Freude über den Titel war sicher nicht ungetrübt, denn eigentlich hätte er ja da unten im legendären Maracana-Stadion stehen müssen, im Trikot mit der 21. Der Spieler von Borussia Dortmund galt als feste Größe im Aufgebot von Bundestrainer Joachim Löw. Bis zum letzten Testspiel.

In Mainz wollte sich die DFB-Auswahl gegen Armenien noch mal so richtig warmschießen für Brasilien. Das gelang, Deutschland gewann mit 6:1. Aber das bekam Reus schon nicht mehr mit. Er war verletzt ausgeschieden, und im Krankenhaus wurde ein Syndesmose-Riss festgestellt. Damit war die WM gelaufen.

Das ist eine typische Reus-Geschichte. Wegen einer Schambein­entzündung verpasste er die Europameisterschaft in Frankreich zwei Jahre später, immer wieder bremste ihn der manchmal offenbar überforderte Bewegungsapparat. Er riss sich das Kreuzband, erlitt Faserrisse im Bereich der Adduktoren oder in der Oberschenkel-Muskulatur. Und immer, wenn er mal wieder so richtig auf dem Sprung schien, warf ihn die nächste Verletzung zurück.

826 Fehltage in neun Jahren

Seit der Saison 2009/2010 zählten die allgegenwärtigen Statistiker beim Fußball-Arbeitnehmer Reus 826 Fehltage wegen Krankheit. In neun Jahren fiel er 2,26 Jahre aus. Ob das ein Rekord ist, hat bis jetzt niemand berechnet.

Sicher aber ist, dass Reus rekordverdächtig oft wieder aufgestanden ist, wenn ihn andere am Boden wähnten. „Ich bin von Haus aus niemand, der sich lange mit Dingen befasst, die er nicht ändern kann“, hat er im Gespräch mit unserer Redaktion mal gesagt. Auch deshalb sind bei ihm Comebacks Routine. Andere mit seiner Krankenakte hätten vielleicht irgendwann gesagt: „Es reicht“, und sie hätten sich einen anderen Job ausgesucht.

Das steht für den Dortmunder Stürmer nicht zur Debatte. In Russland erlebt er deswegen mit 29 Jahren seine erste Weltmeisterschaft. Inzwischen trägt er die Nummer 11, und nach der vor allen Dingen in der ersten Hälfte bestürzenden Vorstellung der Mannschaft beim 0:1 gegen Mexiko ist der schnelle Mann vom BVB der Hoffnungsträger für den taumelnden Weltmeister. Bereits nach seiner Einwechslung im Auftaktspiel brachte er so etwas wie Bewegung in die Begegnung.

Und nun soll er mit seinen Läufen aus der vielzitierten Tiefe des Raumes die schwedische Abwehr durcheinanderbringen. Ganz Fußball-Deutschland setzt auf Reus. Das habe er natürlich mitbekommen, sagt er in Sotschi. Er sagt es leise, wie er überhaupt kein Mann für die großen öffentlichen Worte ist.

An diesem Tag sitzt er ausgerechnet neben Thomas Müller, der natürlich ein Mann für die großen öffentlichen Worte ist. Und da fällt es besonders auf, wie schüchtern Reus außerhalb des Rasenvierecks ist.

Auf dem Platz ist das ganz anders. Da wird aus dem immer noch ein bisschen zappelig wirkenden Kerlchen ein mutiger Kerl, der schwierige Zweikampfsituationen geradezu sucht, der selbstbewusst seine Sprints anzieht und der über eine unvergleichliche Schusstechnik verfügt. „Marco ist wahnsinnig geschickt und intelligent, für jeden Gegner überraschend“, erklärt Bundestrainer Joachim Löw.

Trotzdem stellte er ihn im Auftaktspiel nicht in die Startelf. Das war gewiss ein Fehler. Er gehört in eine ganze Fehlerkette. Löw hat sich vom mexikanischen Stil ebenso überraschen lassen wie von der Klasse des Gegners. Er hat die Mexikaner zwar ausdauernd gepriesen, aber bereits im Trainingslager in Südtirol hat er Reus bedeutet, er werde in der ersten Partie noch „für die wichtigen Spiele geschont“. In der Begegnungszone des Luschniki-Stadions von Moskau plauderte Reus das aus.

„Die Aufstellung ist noch nicht festgelegt“

In Sotschi sieht jeder, dass er darüber nicht noch einmal reden will. Er räumt jedoch ein, „dass man natürlich über die Ziele spricht. Schließlich war ich lange verletzt und gerade erst wieder in den Rhythmus gekommen. Und: Der Bundestrainer stellt auf“.

Das wird er auch am Samstag gegen die Schweden tun. Diesmal wäre es allerdings eine dicke Überraschung, wenn er auf die Dienste des Dortmunders, den seine Kollegen „Rakete“ nennen, verzichten würde.

Das weiß Reus ebenfalls. Aber er sagt die ganz artigen Nationalspieler-Sätze: „Die Aufstellung ist noch nicht festgelegt. Jeder hat den Ehrgeiz zu spielen. Der Trainer kennt mich schon länger und meine Fähigkeiten. Es liegt nicht in meiner Hand. Das oberste Prinzip muss sein, der Mannschaft zu helfen. Wo, ist mir egal.“

Als Verteidiger wird er wohl nicht auflaufen. Die Frage ist allein, ob er in der zentralen Position im offensiven Mittelfeld spielen wird oder auf einem der Flügel. Mit dieser Frage beschäftigt sich nicht nur Fußball-Deutschland, sondern bestimmt auch der Bundestrainer. Seine Antwort gibt er am Samstag.

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