"Spiegel"-Bericht zur WM 2006 Alles nur gelogen?

Düsseldorf · Der DFB gewann 2000 im Abstimmungs-Krimi mit 12:11 Stimmen gegen Südafrika. Gerüchte, Deutschland habe bei der Vergabe der Fußball-WM 2006 manipuliert, gab es schon länger. Bislang konnten diese nicht bewiesen werden.

FIFA 20006 — das Sommermärchen: Alles nur gelogen?
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Es ist wie bei der Oscarverleihung. Auf der Bühne zieht Fifa-Präsident Sepp Blatter ein Papier aus einem Umschlag. In der Züricher Messe ist die Spannung mit Händen zu greifen. Um 14.07 Uhr sagt der Chef des Fußball-Weltverbands diesen magischen Satz: "The Winner is" - kleine Pause - "Deutschland." In der deutschen Delegation bricht ein Jubel aus, der nur mit dem nach ganz großen Siegen auf dem Rasen zu vergleichen ist. Deutschland ist zum Ausrichter der Weltmeisterschaft 2006 gekürt worden. Franz Beckenbauer, der Präsident des Bewerbungskomitees, wirft sich seinem langjährigen Vertrauten Fedor Radmann an den Hals, die Delegation führt Freudentänze auf. "Es war die größte Herausforderung meines Lebens", sagt Beckenbauer, "höher zu bewerten als die Weltmeistertitel, die ich als Spieler und Teamchef gewonnen habe." Es ist Donnerstag, der 6. Juli 2000. Und die Deutschen fühlen sich wie im Märchen.

Sechs Jahre später erlebt das ganze Land sein Sommermärchen. Deutschland stellt sich der Welt als freundlicher, gut gelaunter, witziger Gastgeber vor. "Die Welt zu Gast bei Freunden", ist das Motto. Es gelingt die perfekte Umsetzung. Die Gäste der Deutschen schwören ihrem Vorurteil ab, nach denen die Teutonen unbelehrbare Besserwisser und humorlose Bürokraten sind. Einen Monat lang feiert der Fußball in der Mitte Europas eine große Party. Sogar das Wetter ist schön. Und ganz nebenbei spielen die Deutschen einen hervorragenden Fußball. Sie stürmen bis auf Platz drei und werden gefeiert, als hätten sie den Titel gewonnen.

Das größte Sportfest auf deutschem Boden steht jetzt nach dem Bericht des "Spiegel" in völlig anderem Licht da. Ist das Sommermärchen ein Lügenmärchen? Entstand diese Party, die dem Land ein völlig neues Ansehen in der Welt eintrug, aus einem großen Betrug? Ist der DFB, der größte Sportverband der Erde, so korrupt wie die Fifa und deren Präsident Sepp Blatter, die er jüngst an den Pranger gestellt hat? Viele halten das für undenkbar.

Da geht es weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht anders als den Zeitzeugen der Wahl Deutschlands zum Ausrichter der WM 2006. Sie glauben vor 15 Jahren natürlich daran, dass ausschließlich Beckenbauers ausdauerndes Reisen in die Länder der Fifa-Mitgliedsstaaten eine positive Stimmung für Deutschland erzeugt hat. Sie sind sicher, dass die letzte Präsentation vor den Mitgliedern des Exekutivkomitees der Fifa den Ausschlag gegeben hat. Beckenbauer spricht von Hotelkapazitäten, Infrastruktur, zukunftsweisenden Stadien. Auf der Bühne drücken Bundeskanzler Gerhard Schröder, die lebende Tennislegende Boris Becker, der ehemalige Fußball-Weltstar Günter Netzer und das Model Claudia Schiffer die Daumen. Noch in diesem Juni sagt DFB-Präsident Wolfgang Niersbach, damals im Bewerbungskomitee und später Vizepräsident im WM-Organisationskomitee: "Ich darf daran erinnern, dass wir die beste Bewerbung hatten."

Ob das tatsächlich entscheidend war, muss immer mehr angezweifelt werden. Deutschland wird mit einem knappen Abstimmungsergebnis gewählt: 12:11 bei einer Enthaltung. Daran entzünden sich damals wüste Theorien.

Die erstaunlichste präsentiert das Satiremagazin "Titanic". Deren Chefredakteur Martin Sonneborn behauptet, sein Magazin und nicht Franz Beckenbauer habe die WM nach Deutschland geholt. Am Vorabend der Entscheidung schickt das Blatt ein fingiertes Fax an die Mitglieder des Exekutivkomitees. Für die Unterstützung der deutschen Bewerbung verspricht das Schreiben, das unter den Türen in die Zimmer im Grand Hotel Dolder geschoben wird, "einen Korb mit Spezialitäten aus dem Schwarzwald, wirklich gute Würste, Schinken und - halten Sie sich fest - eine wundervolle Kuckucksuhr."

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Tatsächlich fällt einer der Wahlmänner einen Tag später um. Der Neuseeländer Charles Dempsey soll eigentlich für Südafrika stimmen, beim Patt hätte die Stimme des Präsidenten Blatter doppelt gezählt. Und Blatter ist für Südafrika. Dempsey aber enthält sich. Im Fernsehen sagt er: "Dieses letzte Fax brach mir den Hals." Später beteuert er, der "Druck einflussreicher europäischer Interessenverbände" habe die entscheidende Rolle gespielt. Noch später erklärt Dempsey: "Den Hauptausschlag gab, dass bei meinen Kollegen getuschelt wurde, ich würde Geld von der Delegation Südafrikas nehmen. Dem wollte ich mit meiner Enthaltung entgegentreten."

Der langjährige Fifa-Präsident Sepp Blatter bemerkt ein paar Jahre später in einem Nebensatz in einem Interview mit der Schweizer Zeitung "Blick": "Gekaufte WM? Da erinnere ich mich an die WM-Vergabe für 2006, wo im letzten Moment jemand den Raum verließ."

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WM 2006 gekauft? Pressestimmen

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Der DFB kann die Darstellung der "Titanic" überhaupt nicht lustig finden. Er droht dem Magazin eine Schadenersatzklage in Höhe von 600 Millionen Mark (mehr als 300 Millionen Euro) an. Die "Bild" veröffentlicht die Telefonnummer der "Titanic"-Redaktion und ruft ihre Leser dazu auf, den Redakteuren die Meinung zu sagen. Die machen von diesem Angebot regen Gebrauch. "Nestbeschmutzer" und "Vaterlandsverräter" sind noch die harmlosesten Bezeichnungen, die ihnen einfallen.

Dieser Aufruhr ist längst vergessen, als die deutsche Mannschaft am 9. Juni 2006 mit einem 4:2-Erfolg über Costa Rica ins Turnier startet. Es ist der Auftakt für ein paar Wochen, die nicht nur wegen der deutschen Erfolge schließlich zum Sommermärchen werden. Es herrscht ein Glanz über dem Land, der so gar keine trüben Gedanken zulässt. Deutschland entdeckt einen entspannten Nationalstolz, ein Land erfindet sich in diesen Wochen neu. Den Grundstein dafür hat die Abstimmung in Zürich sechs Jahre vor dem Turnier gelegt. Dass es bei dieser Wahl nicht mit rechten Dingen zugegangen sein soll, ist eine schreckliche Vorstellung.

(RP)
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