WM 2014 in Brasilien Die deutsche Abwehrkraft hat Tradition

Santo André · Als der Fußball noch eine vergleichsweise einfache Angelegenheit war, da hieß die Verletzung, die sich Mats Hummels zugezogen hat, schlicht und eindrucksvoll "Pferdekuss". Heute ist alles viel komplizierter.

DFB: Löws Abwehrketten seit der WM 2010
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Foto: AP

Nach einer Magnetresonanz-Tomographie stellten führende Mediziner des Deutschen Fußball-Bundes fest: "Mats Hummels hat eine Prellung im rechten Oberschenkel mit Einblutung erlitten."

Das tut genauso weh wie ein Pferdekuss und setzt hinter seinen Einsatz im zweiten WM-Gruppenspiel gegen Ghana (Samstag, 21 Uhr MESZ, Live-Ticker) ein Fragezeichen. Die neue deutsche Abwehrreihe mit vier Innenverteidigern aus vier Vereinen könnte also schon nach einer Begegnung zumindest vorerst gesprengt werden. Die System-Idee bleibt aber erhalten.

Bundestrainer Joachim Löw hat mit der Kette von ausgebildeten Innenverteidigern ein Zugeständnis gemacht. Er fühlt sich dem Prinzip des schönen Spiels weiter verpflichtet, aber es hat sich auch bis zu ihm herumgesprochen, dass eine Weisheit aus den Gründerzeiten des Fußballs weiter zählt: "Der Angriff gewinnt Spiele, die Abwehr Titel." Absicherung der eigenen Kreativkräfte ist ihm unter den extremen Witterungsbedingungen besonders wichtig. Und bei seinen Verteidigern ist er sicher, "dass alle schon auch ein bisschen die gelernte Verantwortung haben, das Zentrum zuzumachen. Und sie haben Vorteile in den Zweikämpfen".

WM 2014: Mats Hummels verletzt sich gegen Portugal
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Hummels verletzt sich gegen Portugal

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Zweikampfstärke steht im Vordergrund

Die Begegnung mit Portugal bot ausreichend Beweise für diese These. Die Zweikampfstärke wird auch gegen die "körperlich sehr robusten Ghanaer, die uns viel abfordern werden" (Löw), eine wesentliche Rolle spielen. Da braucht der Trainer Typen wie Jerome Boateng, der sich bei einem Sturz am Daumen der rechten Hand verletzte. Er erlitt "einen Teilabriss des Seitenbandes", wird mit einer Schiene aber spielen können. Der Schiedsrichter muss die Schiene noch genehmigen, das halten die DFB-Ärzte allerdings lediglich für eine reine Formsache.

Es ist möglich, dass Boateng für Hummels ins Zentrum rücken muss. Den Platz auf der rechten Seite könnte dann erneut Shkodran Mustafi einnehmen. Der sollte eigentlich jetzt im Ibiza-Urlaub am Strand liegen, fand sich jedoch bereits gegen Portugal für eine Viertelstunde als Gegenspieler des Weltfußballers Cristiano Ronaldo auf dem Rasen des WM-Stadions von Salvador wieder. Er spielte, wie er es angekündigt hatte: "Wenn der Bundestrainer mich braucht, werde ich da sein."

WM 2014: Alle Tore des Turniers
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Alle Tore des Turniers

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Mustafi war für den verletzten Marco Reus nachnominiert worden. Löw konnte damit ein Ungleichgewicht in seinem ursprünglichen Kader korrigieren, der viel zu viele Offensivkräfte für gerade mal drei freie Positionen vorsah. Mustafis Berufung war der sichtbarste Beweis für das taktische Umdenken des Bundestrainers. Und schon darf er sich auf die gute alte Tradition der deutschen Verteidiger berufen, die in Zeiten des Tiki-Taka-Diktats ein wenig vernachlässigt worden war.

Die DFB-Auswahl wurde auch zu fußballerisch wesentlich schlechteren Zeiten - vielleicht gerade zu diesen - in der Welt für ihre Physis und die furchterregenden Verteidiger gerühmt. Unvergessen sind der säbelbeinige Willi Scholz oder Georg "Katsche" Schwarzenbeck, der dem Fußball-Genie Franz Beckenbauer als dessen treuer Vorstopper erst die Freiheiten für das Spiel gab. An Begegnungen mit den Förster-Brüdern Bernd und Karl-Heinz erinnern sich deren einstige Gegenspieler noch heute mit Schmerzen. Und wer mal auf Jürgen Kohler, den Weltmeister von 1990, traf, der wusste anschließend, dass Zweikämpfe wehtun können, in diesem Fall sogar wehtun müssen.

Solche Spieler bildeten die Basis für Titel. Diese Erkenntnis hat Löw bei seiner zweiten Weltmeisterschaft und seinem vierten großen Turnier als Cheftrainer eingeholt. Zum Glück.

Er wird natürlich trotzdem keine Renaissance der Klopper ausrufen und die DFB-Auswahl in Erinnerung an überwundene Rumpelfußball-Zeiten den Ball wieder über öde und verlassene Mittelfeldgegenden 100 Meter hoch in die gegnerische Hälfte bolzen lassen. Auch seine körperlich beeindruckende Sammlung defensiver Spezialkräfte ist Bestandteil der Kombinationsfußball-Maschine, bei ihr beginnt die Entwicklung der Angriffe. Und sie hat im Unterschied zu den Vorgängern in der verheerenden Phase des Jahrtausendwechsels nicht nur die Lektion des Zweikampfs, sondern vor allem die des taktischen Verhaltens in der Viererkette gelernt.

Bis vor zehn Jahren war das unentdeckte Erde für deutsche Verteidiger. Noch vor der WM 2006 im eigenen Land, die sich zum vielzitierten Sommermärchen entwickelte, waren die Geheimnisse dieser Formation weitgehend unentschlüsselt. In der Vorbereitung auf das Turnier paukte der damalige Trainer-Assistent Löw in Genf vor allem mit den Innenverteidigern das richtige Verhalten. Per Mertesacker ist ihm dankbar dafür. Christoph Metzelder, heute im fußballerischen Ruhestand, erinnert sich auch noch gut an die endlosen Lektionen.

Mertesacker führt heute diese Mischung aus Tradition und Moderne an. Für die wiederum ist Schlussmann Manuel Neuer dankbar. "Als Torwart ist man da ziemlich glücklich, es gibt viel mehr Zweikampfstärke in der Rückwärtsbewegung", sagte er. Auch das spricht für eine Fortsetzung des Versuchs.

(RP)
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