Vor Viertelfinale gegen Frankreich Das System Löw bröckelt

Santo Andre · Nach dem Zittersieg im WM-Achtelfinale sind die Diskussionen um Taktik, System und Personal bei der deutschen Nationalmannschaft wieder voll entbrannt.

Der DFB-Fahrplan zum Viertelfinale gegen Frankreich
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Foto: dpa, geb jai jhe

Am Tag nach dem Zittersieg herrschte Ruhe im Campo Bahia. Joachim Löw hatte seinen Spielern einen freien Nachmittag mit ihren Familien gegönnt. Der Bundestrainer und seine Mitarbeiter dagegen dürften viel zu tun gehabt haben. Das 2:1 nach Verlängerung gegen Algerien hatte Fragen aufgeworfen, auf die auch Löw keine schnellen Antworten wusste. "Ja", hatte er gesagt, man müsse nach so einem Spiel erst mal durchschnaufen.

Ballack zeigt sich "schockiert"

Selten zuvor sah sich der Bundestrainer so deutlicher Kritik ausgesetzt wie nach dem Viertelfinaleinzug. "Das war die schlechteste Vorstellung seit Jahren", sagte der ehemalige DFB-Kapitän Michael Ballack beim US-Sender ESPN. Besonders von der ersten Halbzeit sei er "schockiert" gewesen. Sein Vorgänger Oliver Kahn monierte im ZDF: "Die Mischung stimmt nicht mehr."

Außerhalb der Idylle des Campo Bahia hat nach dem über weite Strecken peinlichen Auftritt des selbsternannten Titelfavoriten die Diskussion über das System Löw begonnen. Von dem schönen und attraktiven Fußball, den der Bundestrainer einfordert, ist der dreimalige Weltmeister bislang weit entfernt.

Ein Grund: Löw trifft bei Taktik, System und Personal schwer nachvollziehbare Entscheidungen. Sie machen ihn angreifbar. Vor der WM bereits hatte der 54-Jährige ohne Not vieles über den Haufen geworfen, was die deutsche Mannschaft auch dank seiner Arbeit wieder so stark gemacht hatte. In Brasilien häufen sich die "unforced errors", die bislang aber durch die Ergebnisse kaschiert wurden.

Wäre die DFB-Auswahl im Achtelfinale ausgeschieden, hätte sich Löw etwa fragen lassen müssen, warum er Miroslav Klose auf der Bank ließ. Dafür durfte Mesut Özil 120 Minuten lang spielen. Sein Tor zum 2:0 kaschierte einen erneut schwachen Auftritt.

"Mesut hat sich in den vergangenen Jahren taktisch nicht wirklich weiterentwickelt. Dass er ein begnadeter Kicker ist, weiß jeder. Aber im Spiel gegen den Ball hat er immer noch große Schwächen", hatte der ehemalige Trainer Ralf Rangnick bereits kurz vor dem WM-Start gesagt. Wie es bislang aussieht, behält er Recht. Ginge es nach dem Leistungsprinzip, das Löw immer betont, wäre für Özil kein Platz in der ersten Elf.

Dagegen drückt Klose, der gegen Ghana (2:2) überzeugt hatte, wieder die Bank. Dabei könnte von seinem Einsatz auch der geniale Thomas Müller profitieren: Der Münchner ist auch aus der zweiten Reihe brandgefährlich. Doch nach seinem Dreierpack zum Start gegen Portugal wird er vom Gegner bereits in Doppel- und Dreifachdeckung genommen.

Kahn zu Neuer: "Das ist Harakiri"

Selbst die Weltklasseleistung von Manuel Neuer wirft Fragen auf: Weil er gegen Algerien mehrmals nach dem Versagen seiner Vorderleute Kopf und Kragen riskierte, wurde er über alle Maßen gelobt. "Das Risiko ist nicht unnötig", behauptete Bundestorwarttrainer Andreas Köpke. Die Abwehr könne so höher stehen, argumentierte Kapitän Philipp Lahm. Der ehemalige Welttorhüter Kahn ist anderer Meinung: "Das ist Harakiri."

In der Tat ließ sich die aus Innenverteidigern zusammengestellte Viererkette, in der Benedikt Höwedes vieles schuldig blieb, von den Algeriern mehrmals mit langen Bällen überlisten. "Für mich ist Höwedes kein Linksverteidiger. Er hat nicht die Fähigkeiten, auf dieser Position das Spiel positiv zu beeinflussen", sagte Höwedes' ehemaliger Schalker Trainer Felix Magath im ZDF.

Bereits beim 2:2 gegen Ghana war die Anfälligkeit der Defensive im 4-3-3-System deutlich geworden. Dass Löw vom 4-2-3-1 Abstand genommen und auch die bei der WM 2010 erfolgreiche Doppel-Sechs gesprengt hat, macht sich negativ bemerkbar. Für Magath steht fest: "Dieses Team braucht Lahm auf der linken Seite dringender als im Mittelfeld. Im Zentrum hätten wir ohne ihn keinen Leistungsverlust. Auf der linken Seite hingegen schon. Dort sind wir flügellahm."

Das gilt auch für die rechte Seite, auf der Lahm gegen Algerien am Ende aushelfen musste. Zuvor hatte Shkodran Mustafi diese für ihn ungewohnte Rolle ausfüllen sollen. Für den 22 Jahre alten Nachrücker, der bei Sampdoria Genua zumeist als Innenverteidiger agiert, war das WM-Parkett nachweislich noch zu glatt. Nun ist er ohnehin verletzt. Und ein Talent wie Erik Durm, den Löw ebenso überraschend aus dem Hut gezaubert hatte, genießt anscheinend doch nicht das Vertrauen, das ihm die sportliche Leitung durchgängig ausspricht.

(sid)
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