Argentinien, Brasilien und Co. Das sind die Favoriten bei der Fußball-WM 2022
Argentinien Auf der Verbindung zwischen Lionel Messi (PSG) und der argentinischen Nationalmannschaft liegt kein Segen. Trotz aller Versuche, den Gewinn der Copa America 2021 zu dem großen Titel umzudeuten, den der Superstar und die Albiceleste sich gegenseitig schulden, bleibt Messi für Argentinien ein uneingelöstes Versprechen. Nach zwischenzeitlichem Rücktritt nimmt er mit 35 nun einen wirklich allerletzten Anlauf, um den großen Wurf zu landen. Dafür spricht die starke Verfassung der Argentinier, die seit Juli 2019 35 Spiele bestritten und keins davon mehr verloren haben. Allenfalls die Defensive könnte Probleme bereiten - in der Offensive müssen selbst Stars wie Angel di Maria um ihre Stammplätze fürchten.
Brasilien Keine Fußball-WM, bei der Brasilien nicht mindestens zum erweiterten Favoritenkreis gerechnet werden müsste. In Katar darf sich das Team um Superstar Neymar sogar zu den heißesten Anwärtern auf den Titel zählen. Die zuletzt zum Teil eindrucksvoll erzielten Siege lassen sich nicht einfach auf eine Weltmeisterschaft hochrechnen, bei der europäische Teams der Selecao traditionell Probleme bereiteten - wie beim Viertelfinal-Aus gegen Belgien 2018. Superstar Neymar führt dabei ein beinahe überbesetztes Offensiv-Ensemble mit Spitzenkräften wie Vinicius jr., Rodrygo (beide Real Madrid), Gabriel Jesus (Arsenal), Antony (ManUnited) oder Richarlison (Tottenham) an. In der Zentrale und der Defensive herrscht kein vergleichbarer Überfluss, Fabinho (Liverpool), Casemiro (ManUnited), die Verteidiger Marquinhos (PSG) oder Eder Militao (Real Madrid) sollten daher nicht ausfallen, die Torhüter Alisson Becker (Liverpool) und Ederson (ManCity) gehören zu den besten auf ihrer Position. Serbien, die Schweiz und Kamerun warten in der Vorrunde, sollten für Brasilien aber nur eine Durchgangsstation auf dem Weg tief in die K.o.-Phase sein. Auf dem Papier wohl der stärkste Kader in Katar.
Frankreich Der Titelverteidiger sollte mit breiter Brust ins Emirat reisen, kommt aber mit Bauchschmerzen und ohne einige Stars nach Katar. Mit N’golo Kanté (FC Chelsea) musste einer der unterschätztesten Superstars des Weltfußballs frühzeitig das Handtuch werfen. Nun sagte auch Paul Pogba (Juventus Turin) Nationaltrainer Didier Deschamps verletzungsbedingt ab. Mit Raphael Varane (Manchester United) und Presnel Kimpembe (PSG) stehen zwei weitere Akteure auf der Kippe. Dafür dürfte sich Karim Benzema (Real Madrid) rechtzeitig vor Turnierstart wieder zurückmelden und als aktueller Weltfußballer sein letztes großes Turnier sicher nutzen wollen, um sich ein Denkmal zu setzen. Obwohl Kylian Mbappé (PSG) alle überstrahlt, birgt der französische Kader trotz der aktuellen Verletzungssorgen gigantisches Potenzial. Christopher Nkunku (RB Leipzig), Antoine Griezmann (Atletico Madrid), Ousmane Dembele (FC Barcelona) oder Kingsley Coman (FC Bayern) bereiten jeder Abwehrreihe Schmerzen. Die jüngsten Resultate besagen jedoch beinahe Gegenteiliges: Ein enttäuschender dritter Platz in der Nations League ist Ausdruck einer relativ hartnäckigen Formkrise. Mit fehlender Klasse ließe sich ein frühes Aus jedenfalls nicht erklären. Personell kann mit Frankreich derzeit kaum ein Verband mithalten.
England Vieles ist wie meistens im Mutterland des Fußballs. Dass Gareth Southgate aus einer der talentiertesten Generationen Englands auswählen darf, war bereits vor der EM 2021 bekannt. Offensiv verkörpern Harry Kane (Tottenham), Jack Grealish (ManCity) oder Raheem Sterling (Chelsea) internationales Topniveau. Die Zentrale ist als eigentliches Prunkstück in Person von Jude Bellingham (Borussia Dortmund) und Phil Foden (Manchester City) aber mit gleich zwei Talenten von potenziellem Weltfußballerformat besetzt. Auch defensiv können die Engländer gehobenen Ansprüchen gerecht werden. Dem gegenüber stehen das traditionelle Torwartproblem, zunehmende Zweifel an Southgate und besorgniserregende Auftritte in der Nations League, die im Abstieg als Tabellenletzter gipfelten. England kann daher eigentlich nur positiv überraschen. Der Turnierbaum könnte den Engländern aber schon im Achtelfinale die Niederlande, in einem möglichen Viertelfinale Argentinien oder Frankreich bescheren.
Deutschland Das DFB-Team hat sich in der jüngeren Vergangenheit recht erfolgreich dagegen gewehrt, zu den Mitfavoriten gerechnet zu werden. Weder der bizarre Kurzauftritt bei der WM 2018 noch das verfrühte Aus bei der EM 2020 versetzen die Fußballwelt in Angst und Schrecken. Spätestens seit 2018 findet sich das Team zudem in einem Prozess des permanenten Umbruchs, der von soliden bis durchwachsenen Ergebnissen begleitet wurde. Meistens nur zwischenzeitlich begeisternde Auftritte wurden konterkariert durch viele Remis und phasenweise uninspirierten Ballbesitzfußball. Jamal Musiala (Bayern München) hat mit 19 Jahren bereits das Potenzial, eine der Attraktionen dieser WM zu werden. Seine Teamkollegen wie Leroy Sané, Serge Gnabry, Leon Goretzka oder Thomas Müller scheinen rechtzeitig zur WM nah an ihrem Leistungsmaximum zu performen. Gerade im Mittelfeld herrscht ein Überangebot, durch das Fehlen eines Mittelstürmers von internationalem Format und die Verletzungen von Timo Werner und Lukas Nmecha muss das DFB-Team die Lücke vorne im Kollektiv schließen. Auch defensiv reicht neben Manuel Neuer nur Antonio Rüdiger an Weltmeisterniveau heran. Auch 2014 konnte Deutschland keineswegs die besten Individualisten aufbieten und schon das Überstehen der starken Vorrundengruppe mit Japan, Costa Rica und Spanien wäre ja ein Fortschritt gegenüber der WM in Russland.
Spanien Deutschlands Gruppengegner kommt mit viel Talent und Altbewährtem. Bekannt ist neben Routinier Sergio Busquets (FC Barcelona) in der Zentrale vor allem die Fokussierung auf Ballbesitz. Für den zeichnet jetzt aber eine neue Generation verantwortlich: Gavi und Pedri vom FC Barcelona haben mit 18 und 19 Jahren das Potenzial, langfristig Klub und Nationalmannschaft zu prägen. Rodri (Manchester City) rundet das Angebot in der Zentrale ab. Ein Stürmer von Weltmeisterformat fehlt den Spaniern, die erneut versuchen werden, viel übers Kollektiv zu lösen. Das ist ihnen in der Nations League mit dem Gruppensieg gegen Portugal, Tschechien und die Schweiz zwar formal gut gelungen, war aber mit viel Mühe verbunden. Den Iberern ist noch immer alles zuzutrauen, hinter den Topfavoriten Argentinien, Brasilien und Frankreich müssen sie sich aber inzwischen in der zweiten Reihe einsortieren lassen.
Niederlande Die Elftal hat eine wechselvolle Geschichte bei großen Turnieren. Nach der verpassten EM 2016 und der ebenfalls verpassten WM 2018 gab die EM 2020 zumindest teilweise Hoffnung auf bessere Zeiten. Das Achtelfinal-Aus gegen Tschechien war zwar am Ende eine Enttäuschung, inzwischen ist aber unverkennbar, dass sich die Mannschaft unter dem neuen alten Trainer Louis van Gaal bedeutend weiterentwickelt hat. Das Personal ist vor allem in der Breite relativ aufregend. Neben Säulen wie Innenverteidiger Virgil van Dijk (Liverpool), Mittelfeldmotor Frenkie de Jong und Memphis Debay (beide Barcelona) geben Flügelstürmer wie Cody Gakpo (PSV Eindhoven), Denzel Dumfries (Inter Mailand) oder Donyell Malen (Borussia Dortmund) van Gaal vor allem in der Offensive zahlreiche Optionen. Dass einige Spieler dabei noch ein wenig unter dem Radar der ganz großen Öffentlichkeit fliegen, könnte Oranje sogar zum Vorteil gereichen, denn mit der Bürde eines großen Favoriten müssen sich die Niederländer nicht herumschlagen. Vielleicht ja ein Schlüssel, um weit zu kommen. Was für das kleine Land möglich ist, bewies der Vizeweltmeistertitel 2010.