Hooligan-Opfer Nivel leidet nach der „Schande von Lens“ bis heute

Lens/Marseille · Bei der WM 1998 in Frankreich wird der Gendarm Daniel Nivel von deutschen Hooligans lebensgefährlich verletzt. Die DFB-Spitze erwägt nach den Ausschreitungen sogar einen Rückzug der Nationalelf aus dem Turnier. Präsident Braun führt ein Telefonat mit Bundestrainer Vogts.

 Daniel sah sich bei der EM 2016 auf Einladung des DFB das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Ukraine an.

Daniel sah sich bei der EM 2016 auf Einladung des DFB das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Ukraine an.

Foto: Dpa

Egidius Braun war aufgebracht und zitierte Berti Vogts umgehend ans Telefon. Der damalige Verbandspräsident saß zwei Tage nach den schlimmsten Ausschreitungen deutscher Hooligans in der DFB-Turniergeschichte beim WM-Spiel gegen Jugoslawien in einem Hotelzimmer in Marseille. Der französische Gendarm Daniel Nivel war am Spieltag außerhalb des Stadions in Lens lebensgefährlich verletzt worden. Braun hatte gerade in einem dpa-Interview seine Fassungslosigkeit und seinen Abscheu über die Schläger („Bestien“) kundgetan, als er erfuhr, was Bundestrainer Berti Vogts bei einer Pressekonferenz im Teamquartier bei Nizza von sich gegeben hatte.

In der Führung des Deutschen Fußball-Bundes hatte es Überlegungen gegeben, die Nationalmannschaft vom Turnier zurückzuziehen. „Dafür fehlen mir die Worte“, kritisierte Vogts die Funktionäre. Erregt kündigte der Bundestrainer Konsequenzen an. Selbst einen Rücktritt schloss der damals 51 Jahre alte Vogts nicht aus.

Braun stellte Vogts daraufhin zur Rede, verwies auf die Loyalität, die er ihm auch in schwierigen Zeiten stets erwiesen habe. Der dpa-Reporter war noch mit im Hotelzimmer, als der DFB-Chef Vogts anwies: „Berti, Du gehst ins Fernsehen und rückst das gerade!“

Braun war verwundert über Zeitpunkt und Inhalt der Vorwürfe seines leitenden Angestellten. Nach den Gewalttaten in Lens sei es durchaus berechtigt, „wenn bei Vorstandsmitgliedern solche Gedanken aufkommen, die auch mich bewegt haben“, äußerte der tief bewegte Braun damals. Vogts nahm am Abend in der ARD schließlich die Rücktrittsdrohungen zurück: „Das ist klar eine falsche Interpretation.“

Nivel lag wochenlang im Koma

Beim Gruppenspiel am 21. Juni 1998 hatten Hunderte deutsche Hooligans in Lens gewütet. Der damals 43 Jahre alte Polizist Nivel war ihr schlimmstes Opfer. Mehrere Wochen lag er im Koma. Nivel trug irreparable Hirnschäden davon. Er ist einseitig gelähmt, auf einem Auge blind. Das Sprechen fällt dem inzwischen 63-Jährigen schwer. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von „einer Schande für unser Land“.

Mehrere hunderttausend Mark wurden in Deutschland für Nivel und seine Familie gespendet. Sechs Hooligans wurden zu mehrjährigen Haftstraßen verurteilt. Der heutige Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff war damals als Spieler in Frankreich dabei und erinnert sich: „Wir haben das beim Spiel und direkt danach nur am Rande mitbekommen. Damals gab es ja noch keine Smartphones.“ Auch 20 Jahre danach sei er „immer noch fassungslos. Das hat das Leben einer ganzen Familie zerstört.“ Der DFB hält bis heute Kontrakt zu den Nivels und kümmert sich. Bierhoff traf das Opfer der deutschen Schläger persönlich bei einem Länderspiel, zu dem die Nivels vom Verband eingeladen wurden.

„Wir dürfen nicht kapitulieren“, sagte Braun damals in Marseille der Deutschen Presse-Agentur. Tatsächlich führten die Vorkommnisse von Lens dazu, dass gegen Hooligans sowie Gewalt in und außerhalb der Stadien „vehementer vorgegangen“ worden sei, wie Bierhoff betont.

Für Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte in Frankfurt/Main, hatte der Tag in Lens auf mindestens zwei Ebenen Auswirkungen: „Erstens gab es ein Erschrecken auch in der Hooligan-Szene und die Fragen: Was geht – und was nicht? Zweitens wurden die polizeilich-präventiven Maßnahmen – Stichwort Ausreiseverbote über Änderung des Passgesetzes - verstärkt. Und dann gab es natürlich die juristische Verfolgung.“

Im Hinblick auf das bevorstehende WM-Turnier in Russland stehe die Hooliganszene seit Monaten unter besonderer Beobachtung, berichtet Gabriel. Es gebe von polizeilicher Seite einen hohen Aufwand. Zudem sei der planerische und organisatorische Aufwand für eine WM-Reise immens. Darum hält es Gabriel eher für unwahrscheinlich, dass es zu größeren Vorfällen kommt: „Ich bin auch sehr zuversichtlich, dass die russischen Sicherheitsorgane ihre Hooligans im Griff haben.“

Die deutsche Mannschaft spielte bei der Weltmeisterschaft vor 20 Jahren in Frankreich weiter. DFB-Präsident Braun war aber „die Freude grundlegend verdorben worden“. Im Viertelfinale war Endstation für den amtierenden Europameister - nach einem 0:3 gegen Kroatien. Wenige Monate später war auch die Amtszeit Vogts beendet.

(dpa)
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