Vor WM-Halbfinale Nach Neymars Aus: Jetzt erst recht

Rio De Janeiro · Die schwere Verletzung des Hoffnungsträgers hat Brasilien in eine Schockstarre versetzt. Doch das Land zieht aus der Misere auch eine Menge Motivation. Für das deutsche Team könnte die Situation gefährlich werden.

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Foto: dpa, gh

Die Staatspräsidentin schreibt dem berühmtesten Patienten, die Prominenz des ganzen Landes solidarisiert sich mit dem Opfer - Brasilien leidet mit dem schwer verletzten Superstar Neymar. Der WM-Gastgeber, vor dem Turnier eigentlich als Favorit ins Turnier gestartet, findet sich vor dem Halbfinale am Dienstag (22 Uhr) in Belo Horizonte gegen Deutschland in der Außenseiterrolle wieder. Und das macht ihn gefährlich.

Luis Felipe Scolari, Brasiliens gewiefter Taktiker auf der Trainerbank, macht sich das ebenso zu Nutze wie die brasilianischen Medien. Denn aus dem Favoriten, der bislang auch von den Schiedsrichterentscheidungen und so manch günstiger Spielplankonstellation profitierte und dafür heftig kritisiert wurde, findet sich ganz plötzlich in einer Opferrolle wieder. Daraus ziehen die Brasilianer zusätzliche Motivation, genau diese Extra-Prozente Kraft, die ein angeschlagener Boxer braucht, um den Lucky Punch zu setzen.

Die Bilder vom schmerzverzerrten Gesicht des am Wirbel verletzten Jungstars laufen in Endlosschleife über die Bildschirme von Manaus bis Porto Alegre. Dass auch die Brasilianer gegen Jungstar James Rodriguez mit gleicher Härte vorgingen, ist schon längst vergessen. Der Kolumbianer hatte einfach nur mehr Glück und einen besseren Schutzengel. Mit dem weinenden Superstar, so schien es, wurden auch die WM-Hoffnungen auf der Liege aus dem Stadion getragen. Neymar ist somit eine Symbolfigur geworden, dessen Namen die Menschen im Stadion rufen, egal ob ihre Mannschaft spielt oder eine andere.

Lateinamerikaner und vor allem Brasilianer lieben Telenovelas. TV-Romane, in denen die guten Helden gegen das Böse kämpfen. Meist ganz allein und eigentlich chancenlos. Doch am Ende triumphiert das Gute. Und das Gute hat für Brasilien einen Namen: Neymar. Und der winkt nun noch von der Liege im Hubschrauber der Nation zu. Niemals aufgeben heißt das, oder wie er mit verweinten Augen in die Kameras des Verbandsfernsehens sagte: "Wir holen trotzdem den Titel." Zwischendurch laufen Werbespots eines Telekommunikationsunternehmens, die Neymar zeigen, der trotz böser Attacken der Gegner immer wieder aufsteht und dann doch das Siegtor schießt. Fußball kann so einfach sein.

Brasilien wird deshalb nur auf dem Papier personell geschwächt in das Halbfinale gehen. Das Stadion in der Bergarbeiter Provinz Minas Gerais und die ganze Nation aber wird wie ein zusätzlicher Mann hinter den Gastgebern stehen, bei denen auch noch Kapitän Thiago Silva wegen einer Gelbsperre ausfallen wird. Natürlich unberechtigt, wie Scolari gleich nach dem Viertelfinale feststellte. Und damit hat der Trainer sogar recht, denn das Foul des Innenverteidigers, dessen Führungsqualitäten die Brasilianer nach dessen tränenreichen Auftritt im Achtelfinale gegen Mexiko anzweifelten, war nur eines von vielen überharten Tritten von beiden Seiten.

Aus dem Druck des Gewinnenmüssens, der auf Brasilien lastete, ist der Schwung eines Außenseiters geworden, der nun eigentlich nichts mehr zu verlieren hat. So bitter die Verletzung Neymars für die Gastgeber ist, sie erlöst sie auch von dieser unmenschlichen Erwartungshaltung.

Der Neymar-Effekt wird deshalb von der ersten Sekunde im Spiel gegen die Deutschen zu spüren sein. Jedes Foulspiel der Löw-Truppe wird mit einem gellenden Pfeifkonzert bedacht, der Schiedsrichter unter einem enormen Druck stehen, jeder seiner Pfiffe wird in Frage gestellt. Brasilien hat sich - wie ein Kommentator des brasilianischen TV-Senders ESPN in dieser Woche feststellte - ohnehin schon längst vom "Jogo bonito" verabschiedet und sich für andere Qualitäten entschieden. Aus der Nation der Ballzauberer ist eine Kampfmaschine geworden, mit einem David Luiz, der vorneweg marschiert. Und so wird es am Dienstag zu einem Spiel kommen, das es in den vergangenen Jahren unter den genau umgekehrten Vorzeichen gegeben hätte: Deutschland wird versuchen, es spielerisch zu gewinnen, Brasilien legt Kampf und Willen in die Waagschale. Mit einem Neymar, der vielleicht im Rollstuhl am Spielfeldrand sitzend, mit seiner Aura die "Selecao" beflügelt. Die Telenovela ist noch nicht zu Ende. Man muss nur dran glauben. Die Brasilianer tun das.

(RP)
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