Brasilien hat Angst vor dem Versagen Scolari setzt Psychologen auf seine Stars an

Teresopolis · Tränen bei den Spielern, Wutausbrüche des Trainers: Brasilien hat bei der Titelmission seine Nerven nicht im Griff. Und bekommt psychologische Hilfe.

Brasiliens Neymar weint nach Viertelfinal-Einzug
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Die Stars von Gastgeber Brasilien sind ausgerechnet in der entscheidenden Phase der WM reif für die Couch. Cheftrainer Luiz Felipe Scolari kommandierte deshalb die Psychologin Regina Brandao ins WM-Quartier Teresopolis. Sie soll mithelfen, dass die brasilianischen Asse in der Endphase der Weltmeisterschaft ihre Emotionen besser unter Kontrolle haben und psychisch wieder stabiler werden.

Aber die "Felipao" hat noch mehr Baustellen und versucht hektisch, die verlorene Kontrolle wiederzugewinnen: über die emotionale Bürde, an der die Selecao zu zerbrechen droht; über die Medien, die nicht nach dem Willen des Nationaltrainers berichten; und über alle, die in seinem Verschwörungswahn den sechsten WM-Titel boshaft verhindern wollen.

Scolari probt den Schulterschluss mit den Medien

Und weil Scolari die Geister, die er vor dem WM-Turnier mit der lauthals selbst aufgebürdeten Favoritenrolle rief, nicht mehr los wird, greift er panikartig in die Trickkiste. Dazu gehört auch, dass Scolari sechs Journalisten seines Vertrauens zu einer Krisensitzung in ein Hinterzimmer bat. Es war wohl der Versuch, einen Schulterschluss mit den heimischen Medien hinzubekommen.

Im Vordergrund steht allerdings die Festigung der psychischen Belastbarkeit der Spieler. Psychologin Brandao, die im Vorfeld der WM Persönlichkeitsprofile von Neymar und Co. erstellt hatte, analysierte am Dienstag vor dem Training mit den Spielern die offensichtlich nur noch schwer zu kontrollierenden Gefühlsausbrüche; bei jedem Abspielen der Hymne, und vor allem vor, während und nach dem Elfmeterdrama im Achtelfinale gegen Chile (3:2 i.E.).

Hulk und Willian versagten am Strafstoßpunkt die Nerven. Torhüter Julio Cesar, mit zwei gehaltenen Bällen der Held des Abends, stellte sich bereits mit von Tränen geröteten Augen auf die Linie. Kapitän Thiago Silva bat aus Angst vor dem Versagen, erst als möglicher elfter Schütze antreten zu müssen — und verharrte zum Gebet einsam an der Seitenlinie.

In renommierten Zeitungen wie "O Globo" oder "Folha de S. Paulo", beim täglichen Sportblatt "Lance", auf jedem TV-Kanal, der von der WM daheim rund um die Uhr berichtet, sind deshalb studierte "Menschenkenner" vor dem Viertelfinale gegen Kolumbien am Freitag (22 Uhr MESZ/Live-Ticker) in Fortaleza die gefragtesten Interviewpartner. Und fast alle sind sich einig: Die Heulerei ist ein Signal für emotionale Instabilität.

Natürlich kommt auch Widerspruch von den Spielern. "Wir hatten schon vor dem WM-Beginn ein Gespräch mit Regina. Was wir gegen Chile durchgemacht haben, wird uns zur Motivation dienen", sagte Edelreservist Ramires, der in den bisherigen vier WM-Spielen der Brasilianer immer eingewechselt wurde.

Daran, dass die Spieler nach der Gefühls-Achterbahn gegen Chile besser mit der Situation umgehen, glaubt auch Fernandinho. Doch der Mittelfeldspieler von Englands Meister Manchester City gesteht: "Die Emotionen werden immer stärken. Das Weinen zeugt davon."

Für Scolari, der seit Tagen wettert, dass keiner Brasilien als Weltmeister sehen will, ist die Berichterstattung über die psychische Anfälligkeit seiner Spieler ein Ding der Unmöglichkeit. Der Weltmeister von 2002 bestellte deshalb sechs einflussreiche Journalisten zur Privataudienz: Er bekam zu hören, dass man doch nur das Offensichtliche wiedergebe.

(sid)
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