Kolumne "Eckball" Von Spiel zu Spiel

Mönchengladbach (RPO). Das Schöne am Fußball ist, dass er von Woche zu Woche neu gedacht werden kann. Das ist zuvorderst die Philosophie derer, die aufgrund ihres nicht überragenden Potenzials keine ausufernden Ansprüche erheben können. Wer die Zukunft verkürzt, der muss sich nicht festlegen auf langfristige Prognosen des großen Ganzen.

Bundesliga 09/10: Köln - Gladbach
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Das "Wir-denken-von-Spiel-zu-Spiel"-Prinzip ist eine Art Schutzfunktion, die es erlaubt, Negativerlebnisse schnell abzustreifen, denn die Chance, es besser zu machen, kommt sofort. Von Woche zu Woche bedeutet: Das nächste Spiel ist immer das wichtigste (ja, Herr Herberger, auch das schwerste!). Was wichtig ist, wird ernst genommen, und was ernst genommen wird, nicht auf die leichte Schulter. Das klingt banal, und ist es auch. Doch ist der Fußball selbst banal — und genau darum so wichtig.

Das Spiel hat die Macht, das, was gestern Gesetz war, heute total auf den Kopf zu stellen. Nehmen wir die Geschichte von Hertha BSC Berlin. Der Besuch der "alten Dame" in Wolfsburg schien nichts mehr zu sein als Formsache, ein notwendiger Teil der Abschiedstour der Hauptstädter auf dem Weg in die zweite Liga.

Das 1:2 gegen den Abstiegskonkurrenten Nürnberg eine Woche zuvor war der Anlass für ausufernde Abgesänge — zurecht. Berlin war am Ende, nicht nur tabellarisch: die Chance, einen Gegner auf Augenhöhe einzuholen, wurde vertan, die Fans wurden zu Vandalen und Kapitän Arne Friedrich nahm danach gar schon eine Teilschuld am Abstieg auf sich, als er sagte, er sei zu diplomatisch und zu wenig "Arschloch" gewesen.

Zeichen setzen

Die Debatte, wie viele, sagen wir mal statt Arschlöcher Stinkstiefel eine Mannschaft braucht, um erfolgreich zu sein, ist so alt wie der Fußball. Elf nette Menschen werden gut klar kommen, aber im entscheidenden Moment vielleicht zu nett sein, um den großen Wurf zu landen oder richtig dagegen zu halten. Zuweilen geht es darum, Zeichen zu setzen, egal wie. Das ist es wohl, was Nationalspieler Friedrich meint.

Trainer reden gern davon, ihr Team solle eine Reaktion zu zeigen. Wie es Michael Frontzeck, der Mönchengladbacher Trainer, vor dem Derby gegen Köln tat. "Eine Reaktion zeigen" passt vorzüglich zum "Von Spiel-zu-Spiel-denken"-Ansatz: Es lässt viel Raum für Interpretationen: Ergebnisse (wie Gladbachs nur 1:1 in Köln nach überlegenem Spiel) sind das eine, die Oberfläche, die "Art und Weise, wie wir gespielt haben" das andere, die Tiefenstruktur.

"Kompakt gestanden, hinten wenig weg gegeben, vorn selbst Chancen kreiert" - Qualitätsmerkmale, die im "Von-Spiel-zu-Spiel"-Ansatz funktionieren, weil die Umsetzung tatsächlich von Spiel zu Spiel variiert. So kann ein Team auch aus einer Niederlage etwas Positives ziehen. Und wenn in der einen Woche nichts geht, kann das in der Woche darauf ganz anders sein. Neues Spiel, neues Glück, im wahrsten Sinne des Wortes.

Das eine Spiel ist der Anreiz für das nächste, kann Motivation einfacher sein? Das funktioniert übrigens auch, wenn es Niederlagen-Serien gibt. Denn irgendwann kommt immer ein Erfolg — und kann dann als die Reaktion auf das, was in den Wochen zuvor war, verstanden werden. Womit wir wieder bei Hertha BSC sind.

5:1 in Wolfsburg beim deutschen Meister. Rums! Rambazamba! Revolution! Es regt sich, was schon leblos war! Das, was vor einer Woche war, die Totenreden, all das scheint in ferner Vergangenheit zu liegen und jedes Sinns entleert. Medienkritiker werden nun rechthaberisch die Lippen schürzen und den Beobachtern Kurzsichtigkeit vorwerfen: erst Leichenfledderei, nun Lobhudelei. Aber bitte: Der Fußball bietet das Spielfeld für diese emotionalen Achterbahnen: von Woche zu Woche geht es bergauf und bergab, mal im Sturzflug, mal weniger dramatisch, aber immer kann die Richtung eine andere sein. Fußball ist ein Tagesgeschäft.

Die Unberechenbarkeit ist eine der vornehmsten Eigenschaften des Spiels. Wer mochte vergangene Woche noch einen Pfifferling auf Hertha setzen? Und wer will sie nun definitiv abschreiben? Das nächste Spiel wird zeigen, ob es ein Zombie war, der in Gestalt Herthas Wolfsburg demütigte — oder ob es eine vitale, nun doch dem Abstieg entrinnen wollende Mannschaft.

Noch sieben Mal

Sieben Mal noch von Spiel zu Spiel denken und am Ende vielleicht doch gerettet sein — das dürfte der neue Plan von Friedhelm Funkel sein, der in Berlin Trainer ist. Vor der Rückrunde hatten sie in Berlin Vorgaben gemacht, wie viele Punkte es sein müssen für die Rettung. Das Soll wurde nicht erfüllt. Nun beginnt eine neue Zeitrechnung — immer am nächsten Spieltag.

Für eine Woche jedenfalls ist Berlin Tabellenführer: In der "Von-Spiel-zu-Spiel-Tabelle" des 26. Spieltags, die Berlin mit 5:1 Tore und drei Punkten anführt. Und nun kommt es im Olympiastadion zum Vergleich mit Borussia Dortmund, das 3:0 gegen Leverkusen siegte und damit Tabellenzweiter in diesem tagesaktuellen Klassement ist. Das ist mal was anderes für Hertha: Spitzenspiel statt Abstiegsendspiel.

Es kommt immer auf die Perspektive an. Einzig dem FC Bayern München ist es gestattet, allgemeiner zu denken. Und es scheint, als sei mal wieder die Zeit gekommen, in der sich der Rekordmeister alles erlauben darf. Auch eine Niederlage in Frankfurt in den letzten Minuten. "Menschlich", fand das ein Kommentator und hat recht. Wer verliert, zeigt eine Schwäche, und wer Schwächen zeigt, ist sympathisch.

So sympathisch offenbar, dass die Konkurrenz, die sowieso nicht Meister werden kann, Schalke (Meister der Herzen) und Leverkusen (Vize-Kusen) nämlich, erstarrt und einfach auch nicht gewinnt. Darum bleibt Bayern Primus — von Woche zu Woche wohl. Das gibt den Münchenern Kraft. Denn an der Isar gilt: Die nächste Tabellenführung ist immer die wichtigste. Vor allem die am 34. Spieltag. Dann haben alle von Spiel-zu-Spiel-Ansätze keine Bedeutung mehr. Denn dann gibt es kein nächstes Spiel.

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