HSV feiert die Rettung In Hamburg brechen alle Dämme

Hamburg · Es ist die Zeit, in der sich auch Verlierer mal endlich wie echte Gewinner fühlen können. In der Kabine des Hamburger Sportvereins wird gefeiert, als gäbe es keinen Morgen mehr.

In der Kabine feierten die Hamburger die Rettung.

In der Kabine feierten die Hamburger die Rettung.

Foto: Screenshot Twitter

Von Nicolai Müller ist ein Bild in die Welt getragen worden, dass ihn und seine Mitspieler völlig ausgelassen bei den Feierlichkeiten nach dem 2:1 gegen den Wolfsburg zeigt. Angeführt wird die Festgesellschaft von Kyriakos Papadopoulos, der nur mit einer Unterhose bekleidet, vor der Kamera herumturnt.

Und auch draußen im Stadion brechen alle Dämme. Ein paar Tausend Zuschauer haben den Rasen gestürmt, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen — über den direkten Klassenerhalt. Zum zweiten Mal in Folge muss der HSV nicht in die Relegation — der größte Erfolg in den vergangenen Jahrzehnten. Um die Begeisterung in geordnete Bahnen zu lenken, hat sich die Reiterstaffel der Polizei in Position gebracht. Es bleibt indes alles im friedlichen Rahmen.

Heribert Bruchhagen marschiert durch den Bauch des Stadions und man hört das erleichterte Seufzen, dass er jedem entgegen schmettert, dem er begegnet. Sein Gesicht ist knallrot. "Alles okay bei mir", sagt der Vorstandsvorsitzende des Gründungsmitglieds der Bundesliga. "Ich atme noch. Natürlich ist das ein besonderer Moment. Wir standen mal wieder mit dem Rücken zur Wand. Jetzt empfinde ich nur noch Erleichterung."

Markus Gisdol wollte gar ein Wunder erlebt haben. "Ich bin einfach dankbar und froh, dass wir heute den Sack zumachen konnten", verkündet der Cheftrainer — und wer etwas genauer in sein Gesicht sieht, der sieht seine feuchten Augen. "Niemand hat mehr auf uns einen Pfifferling gesetzt. Für uns alle ist das der Höhepunkt unserer Karrieren", befindet Verteidiger Mergim Mavraj. So oder ähnlich geben auch seine Arbeitskollegen ihr aktuelles Gefühlsleben zu Protokoll. Und von überall tönt der Slogan all jener, die es gerade noch so geschafft haben: "Niemals Zweite Liga!"

Es gehört zu den besonderen Geschichten des Fußballs, dass der HSV über lange Zeit alles dafür getan hat, seine Daseinsberechtigung in der höchsten deutschen Spielklasse in Frage zu stellen — und am Ende doch wieder zu triumphieren, als sei es das Selbstverständlichste Teil des elitären Zirkels zu sein. Und so waren die Hanseaten gegen die Niedersachsen zunächst völlig verdient in Rückstand geraten. Robin Knoche hat für die sogenannten Wölfe die Führung nach 23 Minuten erzielt. Doch es fehlt hernach der nötig Biss, um sich entscheidend absetzen zu können.

Im Gegenteil. Filip Kostic erzielt neun Minuten später den Ausgleich — vorausgegangen war ein richtiger feiner Pass von Lewis Holtby, der eine erstaunliche Entwicklung vom Fußballprofi mit dem Hang zu großen Sprüchen zum ernstzunehmenden Führungsspieler vollzogen hat. Und dann nimmt alles seinen Lauf. Das Spiel neigt sich dem Ende entgegen und viele haben schon die Vision, der HSV könnte in der Nachspielzeit noch begünstigt durch eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf die Gewinnerstraße gebracht werden.

Gisdol kritisiert Ansetzung von Referee Gräfe

Doch Schiedsrichter Manuel Gräfe liefert eine fast fehlerfreie Leistung ab. Gräfe hatte 2015 im Relegations-Drama des HSV gegen den Karlsruher SC kurz vor Ende des Rückspiels eine umstrittene Freistoß-Entscheidung getroffen, die den Hanseaten schließlich die Rettung brachte. Auch noch nach der gewonnenen Partie grantelt Gisdol in Richtung Deutscher Fußball Bund (DFB) und spricht von einer "unverantwortlichen Entscheidung". Gräfe sei in eine unmögliche Lage gebracht worden. Gräfe indes hat seinen Job gemacht — und das unter diesen Umständen ausgezeichnet.

Man hätte sich so viel Souveränität auch von den Akteuren beider Mannschaften gewünscht — doch die Angst spielt deutlich sichtbar mit. Dreieinhalb Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit wechselt Gisdol den erst 21-jährigen Luca Waldschmidt ein. 110 Sekunden später erzielt der Angreifer den Siegtreffer für den HSV. Nach seiner großen sportlichen Tat, hält er sich beim verbalen Abschluss lieber zurück. "Einfach unglaublich", erzählt der U21-Nationalspieler.

Die Wolfsburger versuchen das Erlebte einigermaßen professionell zu verarbeiten. "Fußball", sagt Mario Gomez, "Fußball ist schon brutal. Wir sind aber nicht abgestiegen. Wir haben noch zwei Spiele gegen einen Zweitligisten. Bei aller Liebe - das müssen wir schaffen." Olaf Rebbe, Sportdirektor des VfL, tut sich dagegen nicht so leicht, gleich wieder selbstbewusste Töne zu finden. "Es herrscht eine Riesenenttäuschung. Wir waren drauf und dran, es zu schaffen, das müssen wir verarbeiten." Immerhin ist er der Auffassung: "Wir haben die richtige Mentalität, da stelle ich mich vor mein Team." Das Hinspiel zwischen Wolfsburg und dem Drittplatzierten der 2. Bundesliga (voraussichtlich Eintracht Braunschweig) ist am kommenden Donnerstag (20.30 Uhr). Am Montag drauf ist dann das das Rückspiel.

In Hamburg ist das Thema Relegation ganz, ganz weit weg. Man ist wieder wer. Und so manche fachsimpeln gleich schon wieder von ganz großen Taten in der nächsten Spielzeit. Überall rund um das Stadion gibt es diesen einen Fangesang, der immer und immer wieder intoniert wird. Er geht so: "Sechs Mal Deutscher Meister, drei Mal Pokalsieger, immer erste Liga: HSV!" Das Lied muss an entscheidender Stelle nicht umgeschrieben werden. Und im Stadion läuft die Uhr weiter, die die Zugehörigkeit zur Bundesliga anzeigt.

Ticktackticktack — mindestens bis zum nächsten Jahr.

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