Erinnerungen an Rio 2014 An Tagen wie diesen
Rio de Janeiro · Vor fünf Jahren wird Deutschland in Rio de Janeiro Weltmeister. Der Glanz ist längst verblasst, die Helden von 2014 sind längst keine mehr. Vom Erfolg von damals ist die DFB-Elf inzwischen weit entfernt.
In Rio de Janeiro ist es auch im brasilianischen Winter ganz schön warm. Jedenfalls für Mitteleuropäer. Latinos empfinden da anders. Carlos Santana zum Beispiel. Als er vor dem WM-Finale 2014 in Rio de Janeiro dem überwiegend leichtbekleideten Publikum im Maracana einheizen soll, trägt er einen langen schwarzen Ledermantel und ein keckes Hütchen. Den meisten wird schon beim Hinsehen ziemlich heiß.
Die eigentlichen Hauptpersonen dieses Sonntag-Nachmittags am 13. Juli bekommen davon nichts mit. Während der in Mexiko geborene US-Bürger Santana und die Kolumbianerin Shakira aus dem Stadion für 20 Minuten eine Rockarena machen, kommen die deutsche und die argentinische Mannschaft durch die langen Gänge im Bauch von Maracana in ihre Kabinen. Vielleicht beschäftigen sie sich mit dem Gedanken an sportliche Unsterblichkeit, vielleicht denken sie an ihre Gegner, die Taktik, ihre Aufgabe. Vielleicht denken sie an den Weg, der hinter ihnen liegt. Sicher denken sie nicht an Musik oder Tanz.
Gut vier Stunden nach dem Auftritt der Showgrößen ist zumindest den Deutschen nach Tanz zumute. Sie haben sich in einem hart umkämpften Finale nach Verlängerung mit 1:0 durchgesetzt. Ein paar Bilder schaffen es ins kollektive Gedächtnis der Fußballnation: Mario Götzes Tor, das er nach einer Flanke von André Schürrle mit einer einzigen fließenden Bewegung erzielt, in der Ballannahme und Abschluss zu einem Kunstwerk verschmelzen. Bastian Schweinsteigers blutende Wunde am Kopf, sein epischer Kampf im Mittelfeld, der mit dem Schlusspfiff in einem letzten knallharten Kopfballduell seinen passenden Abschluss findet. Jerome Boatengs große Rettungstaten. Gonzalo Higuains grotesker Fehlschuss nach einem ebenso grotesken Fehlpass des sonst so unfehlbaren Toni Kroos. Das glückliche Ende, die Jubeltraube aus Menschen, die Schweinsteiger unter sich begräbt. Der goldene Konfettiregen bei der Siegerehrung. „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit.“ Für solche Momente haben die Toten Hosen ihr Lied geschrieben.
Die Spieler würden die Zeit gern anhalten, während es langsam Nacht wird über Rio de Janeiro und tatsächlich die Christus-Statue aus dem Nebel über dem Zuckerhut auftaucht wie in einem überkomponierten Drehbuch.
Aber die Zeit eilt davon, fünf Jahre später ist der Titel eine schöne Erinnerung, aber die Wirklichkeit heißt: WM-Absturz, Umbruch, Neuanfang. Der Weltmeister von 2014 muss sich mühsam finden. Dazu hat die übliche Selbstüberschätzung beigetragen, die so viele Titelträger ereilt. Dazu hat beigetragen, dass so mancher aus dem WM-Team entweder seinen Abschied eingereicht oder den Höhepunkt der Karriere längst überschritten hat. Die Lücke, die das Karriere-Ende von Kapitän Philipp Lahm hinterlassen hat, ist bis heute nicht geschlossen. Einen Anführer, der strategisches Geschick mit Teamgeist verbindet wie Schweinsteiger, gibt es nicht mehr. So wenig wie einen Stürmer, der Torrekorde aufstellt wie Miroslav Klose.
André Schürrle, der beste Einwechselspieler des Turniers in Brasilien, hat seither nur noch durch opulente Ablösesummen auf sich aufmerksam gemacht. Mario Götze ist froh, nach fußballerischen und gesundheitlichen Krisen wieder einigermaßen Anschluss an den Hochleistungssport zu finden. Es ist unwahrscheinlich, dass er jemals so gut wird, wie es ihm Trainer Joachim Löw bei der Einwechslung im Endspiel an der Seitenlinie ins Ohr flüsterte. „Zeig, dass du besser bist als Messi“, sagte Löw. Götze zeigte, dass er an diesem Tag zumindest treffsicherer war als der argentinische Superstar. Im Neuaufbau der Nationalelf spielt das einstige Ausnahmetalent keine Rolle.
Die seinerzeit beste Innenverteidigung der Welt, bestehend aus Mats Hummels und Jerome Boateng, ist von Löw erstaunlich kühl bei einem kurzfristig anberaumten Besuch in München auf Bayerns Trainingsgelände abserviert worden. An ihrer Stelle dirigiert nun der wuchtige Niklas Süle die Abwehr, während Hummels nach seiner Rückkehr nach Dortmund dort Meistermentalität verbreiten soll. Die Bayern haben Boateng nahegelegt, sich einen neuen Klub zu suchen. Er findet aber offenbar keinen Verein, der bereit ist, angemessen tief in die Tasche zu greifen. Die Form aus dem WM-Finale, das wahrscheinlich sein bestes Spiel war, hat er nie wieder erreicht.
Über Benedikt Höwedes, der beim Turnier als grundsolider Abwehrspieler eine der großen Überraschungen war und kein Spiel verpasste, ist die Zeit hinweggegangen. Für die ganz große Bühne fehlt ihm das Tempo, bei Lokomotive Moskau bereitet er einen ordentlichen Karriere-Ausklang vor. Und Christoph Kramer konnte sich bereits während des Finales nicht erinnern, wo er war, weil ihn ein Argentinier brutal weggecheckt hat. Kramer blieb eine Gehirnerschütterung und die große Ehre, in der Startaufstellung des Weltmeisters gestanden zu haben. Auch er spielt beim Neuaufbau keine Rolle.
Bis zur nächsten Sternstunde nach Rio ist es ein sehr weiter Weg. Die DFB-Auswahl findet gerade wieder zu einem Niveau, das zumindest in der Nähe ihrer natürlich hohen Ansprüche liegt. Aber die Welt hat sich weiter gedreht. England, Brasilien, vor allem Frankreich haben die Deutschen überholt. Und die suchen einstweilen nach der Mischung, die sie in Brasilien so perfekt auf den Rasen brachten. Es war eine Mannschaft, die schönes Spiel mit Zweckmäßigkeit, individuelle Klasse mit Mannschaftsgeist und Erfahrung mit Erfolgshunger vereinte. Und die auch ein bisschen Glück hatte – an diesem 13. Juli 2014.