Fußball-Nationalmannschaft Was ist bloß mit Jogi los?

Frankfurt/M. · Aus Mangel an Entschlussfreudigkeit lässt sich der Bundestrainer zu Entscheidungen treiben. Eine davon bekommen Mats Hummels, Jérôme Boateng und Mats Hummels zu spüren. Eine Einordnung.

Der Bundestrainer in Denkerpose: Joachim Löw auf dem Podium bei einer Pressekonferenz des DFB.

Der Bundestrainer in Denkerpose: Joachim Löw auf dem Podium bei einer Pressekonferenz des DFB.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Joachim Löw fand, es sei an der Zeit, mal etwas festzustellen. „Wir müssen“, sagte der Bundestrainer, „richtige Entscheidungen treffen.“ Das war im vergangenen Herbst, vor dem Länderspiel in Frankreich. Er sah ein bisschen gequält aus dabei. Löw sieht immer ein bisschen gequält aus, wenn es um Entscheidungen geht. Deshalb hätte er den Satz auch in dieser Woche sagen können, bevor er mit seinem Assistenten Marcus Sorg und DFB-Direktor Oliver Bierhoff nach München aufbrach, um eine Entscheidung zu verkünden. Auf dem Trainingsgelände des FC Bayern beendete Löw in, wie es heißt, recht kurzen Gesprächen die Nationalmannschafts-Karrieren von Thomas Müller, Jerome Boateng und Mats Hummels. Es darf als sicher gelten, dass Löw nicht sehr entspannt aussah.

Es gehört zu den weniger angenehmen Seiten seines Berufs, Entscheidungen zu treffen, mitunter solche, von denen er weiß, dass sie nicht überall mit Beifall aufgenommen werden. Vor allem von den Betroffenen nicht, denen er mitteilen muss, dass er für sie keine Zukunft im Nationalteam sieht – sei es für ein Spiel oder für immer. Die angenehmere Seite seines Berufs als oberster Fußballtrainer besteht nicht nur in einem sehr anständigen Salär, das er beim DFB bezieht, die Rede ist von 3,5 Millionen Euro im Jahr. Löw ist auch ein erfreulich freier Mensch, der über seine Termine außerhalb der Länderspiel-Verpflichtungen verfügen kann und der in seiner vielleicht gar nicht so knapp bemessenen Freizeit das stets gepflegte Äußere für allerlei Werbezwecke zur Verfügung stellt, die ebenfalls für ein feines Einkommen sorgen.

In der Öffentlichkeit gibt der höfliche Herr Löw mit dem liebenswerten badischen Akzent fast immer ein sehr gutes Bild ab. Er wirkt höflich, auskunftsbereit und zugänglich. Es ist kein Wunder, dass alle Welt ihn Jogi nennt. Doch jetzt fragen sich viele: Was ist bloß mit Jogi los? Was bewegt den so auf Stil und Wirkung bedachten Bundestrainer, drei Weltmeistern in aller Eile bei einem nicht angekündigten Besuch den Laufpass zu geben? Das fragen sich auch jene, die sportliche Gründe nachvollziehen können. Sie wundern sich ebenfalls über die von Anstand und Stil wenig beeinflusste Art der Absage an die Münchner.

Stimmen zum DFB-Aus von Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng
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Foto: dpa/Peter Kneffel

Löw hat sehr lange gebraucht, ehe er vor dem Hintergrund einer völlig missratenen Weltmeisterschaft (die acht Monate her ist) und einer kaum weniger missratenen Serie in der Nations League (die Mitte November im Abstieg aus eben jener gipfelte) das Jahr 2019 zum „Jahr des Neubeginns für die Nationalmannschaft“ ausrief.

Dafür und für seine Personalentscheidung, die am Dienstag nahezu zeitgleich Spieler und Öffentlichkeit erreichte, wurde der Bundestrainer ausgiebig von führenden DFB-Funktionären gefeiert. „Ich begrüße es, dass er den Umbruch unserer Nationalmannschaft jetzt weiter entschlossen voranbringt. Der Beginn der Qualifikation für die Euro 2020 ist genau der richtige Zeitpunkt für personelle Veränderungen“, erklärte Präsident Reinhard Grindel. Bierhoff sagte: „Wir wollen nun konsequent den Neubeginn auch im Kader sichtbar machen.“

Der demonstrative Beistand ist verdächtig. Erstens, weil er für eine Mitteilung an die Medien schon vor dem Treffen Löws mit den Spielern verfasst worden war. Zweitens, weil er geradezu erleichtert klingt – ganz so, als seien die Funktionäre sehr erfreut, dass Löw endlich mitmacht, was die DFB-Oberen seit dem sportlich verheerenden Sommer 2018 versprechen: einen Neuanfang ohne Rücksicht auf Namen und Verdienste.

Grindel hat im Herbst von Konsequenz geredet, als Löw noch auf die zarte Tour davonkommen wollte. Die Tatsache, dass der Trainer ebenfalls im Herbst die nun entlassenen Weltmeister ausdrücklich zu der ihm notwendig erscheinenden „Achse der Erfahrenen“ rechnete, hat die DFB-Zentrale nicht kommentiert. Es darf dennoch angenommen werden, dass sie dem Coach zarte Hinweise zum Umdenken gegeben hat.

Joachim Löw bei der EM 2021 – Freiburger, DFB-Pokalsieger, Weltmeister
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Das ist Joachim Löw

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Foto: dpa, ss

Es ist nicht neu, dass Löw gelegentlich zum Jagen getragen werden muss, und dass er aus Mangel an Entscheidungsfreude sehr leicht zum Getriebenen seines jeweiligen Umfelds wird. Nur zwei Beispiele: 2010 machte es sich Phiipp Lahm nach der überraschend erfolgreichen WM in Südafrika im Amt des Kapitäns gemütlich, das er eigentlich nur für den verletzten Michael Ballack übernommen hatte. Weil Löw mit seinem ausgeprägten Feingefühl für Strömungen im Team spürte, dass Alphatier Ballack dort nicht mehr willkommen war, servierte er den einstigen Capitano kühl ab. „Wir hätten es besser lösen können“, räumte er später ein.

Während der WM 2014 in Brasilien sorgten einflussreiche Spieler im Aufgebot dafür, dass Löw in der K.o.-Runde Lahm in die Außenverteidiger-Position zurückzog, obwohl der sich viel lieber im zentralen Mittelfeld sah. Der Trainer ging den Weg des geringeren Widerstands. Er ging ihn spät, aber nicht zu spät. Lahms Versetzung war ein Grund für den Titelgewinn.

Der Triumph von Rio hat Löw sportlich unsterblich gemacht und innerhalb des Verbands offenbar unantastbar. Denn Konsequenzen für den historischen Rückschlag von Russland müssen Spieler, Löws einstiger Assistent Thomas Schneider oder der frühere Chefscout Urs Siegenthaler tragen. Der Bundestrainer aber ist im Amt, weil vor allem Grindel es so will. Der Präsident hat Löw unmittelbar nach der WM bescheinigt, dass er der richtige Mann für einen fälligen Neuaufbau sei.

Löw ist davon trotz aller Selbstbezichtigung im Anschluss an die WM, in der er sein eigenes Verhalten als „fast schon arrogant“ bezeichnete, gleichfalls überzeugt. Seine Kritiker glauben, dass er vor allem darum davon überzeugt ist, weil es auf der Welt kaum einen schöneren Job als den des DFB-Cheftrainers gibt.

Wenn da nur nicht die Entscheidungen wären. Durch Löws Zaudern war der Start in die Länderspielsaison nach der WM alles andere als ein Neustart. Spielerisch nicht, personell nicht, taktisch nicht. Das Nachbessern dauert nun mehr als acht Monate und erreicht seine verblüffende Spitze in der schmucklosen Verabschiedung des Weltmeister-Trios aus München. Nicht nur aus der bayerischen Hauptstadt wird Löw nun erinnert, dass er am Erfolg seines personellen Schnitts gemessen wird. Ein Scheitern in der EM-Qualifikation mit zweit- und drittklassigen Gegnern (Ausnahme Holland) würde ihm allerdings selbst ohne radikale Verjüngung nicht verziehen. Sie ist aber auch in beiden Fällen nicht wahrscheinlich, weder mit der Weltmeister-Achse der Erfahrenen noch mit den Timo Werners oder Leroy Sanés dieser Welt.

Der Bundestrainer hätte den Übergang deshalb viel eleganter moderieren können. Schließlich liegt in der Moderation (böse Menschen sagen Gleichgültigkeit) seine große Stärke. Zum groben Auftritt von München hat er sich offenbar treiben lassen. Auch das liegt in seiner Natur. Leider.

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