Wiedererstarkter Nationalstürmer Gomez erfindet sich neu

Düsseldorf/Ascona · Der Mittelstürmer hat sich Beweglichkeit verordnet und ist bei Löw wieder ein Kandidat für die Startelf.

 Mario Gomez

Mario Gomez

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Die Geschichte mit dem echten und falschen Neuner hat Joachim Löw vor zwei Jahren auf den Index gesetzt. Seither begegnet der Bundestrainer Fragen nach gelernten Mittelstürmern und zentralen Spitzen bestenfalls mit einem ziemlich genervten Rollen der Augen. Für ihn sind die Zeiten vorbei, in denen kräftige Herren ihr Berufsleben im Strafraum fristen, wo sie auf Hereingaben der Kollegen warten, in die sie sich mit der ganzen Gewalt ihrer ausgebildeten Körper werfen.

Deshalb schien auch die Geschichte von Mario Gomez in der Nationalmannschaft vorbei, der ein Typ aus dem Bilderbuch der sogenannten Stoßstürmer ist. Vielleicht muss man sagen: der ein Typ aus dem Bilderbuch der sogenannten Stoßstürmer war. Denn er hat sich im zarten Alter von 30 Jahren neu erfunden.

Als er den Strafraum noch als alleinigen Lebensraum definierte, geriet er bei Bayern München aufs Abstellgleis, fand in Florenz kein Glück und schaffte es folgerichtig nicht ins WM-Aufgebot 2014. Der Typ Gomez war aus der Mode gekommen.

Nun ist er wieder da, allerdings stark überarbeitet. Bei Besiktas Istanbul entdeckte der Stürmer nicht nur seine bemerkenswerten Abschlussqualitäten wieder, er mischte sich auch nachdrücklich ins Zusammenspiel ein. Diese Fähigkeiten hat er in der Nationalmannschaft ebenfalls gezeigt. Er bewegt sich mehr, spielt mit, bringt sich ein. Tore schießt er ohnehin - zuletzt in der Wasserschlacht gegen die Slowakei. Da nahm er sich den Ball zum Elfmeter. Er schritt sehr aufrecht, sehr stolz und sehr sicher zur Ausführung. Da hat einer die breite Brust früherer Jahre zurückgewonnen. Gomez ist vom Auslaufmodell zur Startelf-Alternative in Löws EM-Team geworden.

Der Spieler kennt solche Situationen. Denn er kam schon häufiger aus der Mode. In München passte er dem großen Louis van Gaal nicht so recht in die taktische Vorstellung. Der Holländer machte ihn 2010 zu seinem Stürmer Nummer vier. Erst nach sieben Spieltagen durfte Gomez mal wieder in der Startelf auflaufen. Am Ende der Saison, das van Gaal wegen eines verlorenen Alpha-Tier-Krieges mit Uli Hoeneß nicht mehr erlebte, hatte Gomez 28 Tore geschossen. Er sagte, was er bis heute sagt, wenn ihn seine Trainer mal wieder auf den Platz lassen: "Wenn ich fit bin, schieße ich meine Tore."

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Für Löw war Fitness aber lange Zeit kein Argument. In der idealen Fußballwelt des deutschen Bundestrainers ist Fußball ein Spiel, wie es sich Ästhetik-Professoren wie Johan Cruyff und Pep Guardiola ausmalen. Es ist eine Sportart, in der fußballerische Feingeister mit dem taktischen Verstand von Großrechnern und der Zielstrebigkeit von 100-Meter-Läufern jede Position auf dem Feld in jeder Situation einer Begegnung einnehmen können.

Wenn Löw träumt, dann sieht er viele, sehr viele Mittelfeldspieler und möglicherweise noch einen Torwart, der freilich zumindest so viel Aufbauarbeit leisten muss wie Manuel Neuer. Große Jungs, die den Strafraum ansteuern und Wucht zum Inhalt ihres Spiels erklären, kommen in Löws Träumen nicht vor.

In den Tagen vor dem großen Turnier in Brasilien hat aber auch Löw das Ergebnis und die Zweckdienlichkeit arbeitender Spezialisten erkannt. Es wurde nicht mehr alles dem Guten und Schönen untergeordnet. So etwas bringt Titel. Löw lässt sich auf einen Kompromiss zwischen Traum und Wirklichkeit ein, weil auch er die Währung Titel angenommen hat.

Sein Ideal verliert er darüber nicht aus dem Blick. Mario Gomez in der Spielauffassung seiner frühen Jahre, als er die Aktionen auf sich zulaufen ließ und geduldig am Ende der Verwertungskette stand, wäre bei Löw auch vor der Europameisterschaft kein Thema. Die fußballerische Wandlung des Angreifers macht ihn jedoch zu einem Stammplatz-Anwärter. Das hat Gomez natürlich bemerkt. Deshalb erklärt er: "Die Mannschaft kann Europameister werden, und ich will dazu beitragen."

Er kann das tun, indem er der Armada von Kringeldrehern, mit der Löw am liebsten in der Offensive antritt, einen notwendigen Schuss Klarheit verpasst. Und er profitiert im Augenblick davon, dass er deutlich austrainierter in die EM-Endrunde geht als Mario Götze, den der Trainer so gern in der Zentrale aufbietet. "Ich fühle mich so gut wie noch nie in meiner Karriere", sagt Gomez. Man sieht es ihm an. Wie Götze soll er durch Positionswechsel mit den anderen Offensivspielern Abwehrreihen auseinanderziehen. Dass er das ebenfalls beherrscht, hat er bewiesen.

Darunter leiden nicht mal seine Stärken im Abschluss. Die halten bereits jeden Vergleich mit Topathleten aus. In 63 Länderspielen hat er 27 Tore erzielt. Das klingt schon mal ordentlich. Es hört sich noch besser an, wenn man berücksichtigt, dass er nur 39 Starteinsätze hatte und dabei 24mal ausgewechselt wurde. Zuviel Zeit benötigt Gomez also nicht für Tore.

Und das ist immer noch das stärkste Argument - aller neuen Beweglichkeit zum Trotz. Mit der neuen Laufstärke erspart er sich zumindest geschmacklose Nörgeleien des TV-Experten Mehmet Scholl. Er habe schon Angst gehabt, "dass Gomez sich wundliegen würde", erklärte Scholl beim EM-Turnier 2012. Beim "Wundliegen" in drei Vorrundenspielen hatte Gomez drei Tore gemacht.

(pet)
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