Quell purer Fußball-Freude Das 3:1 der DFB-Elf 1972 in Wembley taugt zum Schwelgen

Meinung · Die DFB-Elf, die Ende April 1972 England in Wembley 3:1 schlug, gilt vielen als beste deutsche Nationalelf aller Zeiten. Weil sie so undeutsch leichtfüßig aufspielte. Die Szenen von damals taugen heute mehr denn je als Quell purer Fußball-Freude.

 Nass, aber glücklich: die deutschen Sieger von Wembley 1972 (v.l.): Uli Hoeneß, Siegfried Held, Herbert Wimmer, Sepp Maier, ein Fan, Georg Schwarzenbeck, Gerd Müller und Horst-Dieter Höttges.

Nass, aber glücklich: die deutschen Sieger von Wembley 1972 (v.l.): Uli Hoeneß, Siegfried Held, Herbert Wimmer, Sepp Maier, ein Fan, Georg Schwarzenbeck, Gerd Müller und Horst-Dieter Höttges.

Foto: IMAGO/Horstmüller/IMAGO/HORSTMUELLER GmbH

Am 29. April 1972, einem kühlen Frühlingssamstag, sitzen verzagte deutsche Nationalspieler in ihrer Kabine im Londoner Wembleystadion. „Wenn wir weniger als fünf Stück kriegen, ist das ein wunderbares Ergebnis“, flüstert der Mönchengladbacher Mittelfeldspieler Günter Netzer seinem Sitznachbarn Franz Beckenbauer von Bayern München zu. Das war arg pessimistisch, aber als Favorit ging Deutschland sicher nicht ins Hinspiel im Viertelfinale der Europameisterschaft.

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Foto: dpa/Jean-Christophe Bott

Zwei Stunden später sah die deutsche Welt ganz anders aus. Die DFB-Auswahl gewann mit 3:1, und sie zauberte einen derart kunstvollen, temporeichen Fußball auf den heiligen Rasen, dass die Sportpresse auf dem Globus geradezu in Schnappatmung verfiel. „Dank der Deutschen gibt es jetzt wieder jenen brillanten Fußball in Europa, den die Ungarn früher so unnachahmlich zeigten“, schrieb der „Daily Telegraph“. In Wembley wurde (auch aus Verletzungsnot) ein Team geboren, das mit spielerischer Leichtigkeit anderthalb Monate darauf ganz selbstverständlich den Europameistertitel (3:0 im Finale gegen die Sowjetunion) gewann und das viele für die beste deutsche Nationalmannschaft halten – ich übrigens auch.

Aber stimmt das? Vergleiche über die Jahrzehnte hinweg sind ja immer schwierig. Sie können nicht mit klaren Fakten operieren, die über das bloße Ergebnis hinausgehen. Sie leben von Gefühlen, Erinnerungen, konservierten Stimmungen. Das macht sie so reizvoll.

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Foto: dpa/Alexander Hassenstein

Der damalige Bundestrainer Helmut Schön hat schlechte Laune in den Jahren nach 1972 gern mal damit bekämpft, sich das Video des Spiels in Wembley anzuschauen. Ich gebe zu: Das mache ich auch manchmal. Während die andere Hälfte unserer Kernfamilie darauf mit einer Mischung aus Nachsicht und augenrollender Verzweiflung reagiert, kann ich mich an Netzers Vorstößen aus der später sprichwörtlichen Tiefe des Raumes begeistern, nehme sein wallendes Haar für ein Zeichen des fußballerischen Aufbruchs, bestaune das Wechselspiel mit Beckenbauer, dem anderen Dirigenten dieser Elf, krieg mich weder über Gerd Müllers unnachahmliche Treffsicherheit noch über die erstaunlichen 20-jährigen Paul Breitner und Uli Hoeneß ein und sehe einen Fußball voller Rhythmus, ein mannschaftliches Gesamtkunstwerk.

Natürlich wird das Spiel im Vergleich zu heute in Zeitlupe und viel Freiraum aufgeführt, und die Akteure sehen noch aus wie normale Fußballer und nicht wie nach allen Regeln der Wissenschaft hochgezüchtete Athleten. Trotzdem sagt mir mein Gefühl, dass keine deutsche Nationalmannschaft je besser war. Beweisen Sie meinem Gefühl mal das Gegenteil.

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Foto: dpa, hrad nic

Dabei gab es selbstverständlich große Teams. Gleich vier wurden Weltmeister. Die noch von der Nachkriegszeit gezeichneten Männer, die 1954 das Wunder von Bern vollbrachten, stehen allerdings ebenso wenig wie die Elf von 1974 oder jene von 1990 oder 2014 für eine Form von geradezu überirdischer Kunst. Die vier Weltmeistermannschaften lebten vom Teamgeist (1954, 1990, 2014) oder von ihren unbeugsamen großen Einzelkönnern (1974), die einfach nicht verlieren wollten. Verzaubert haben sie nur durch den Erfolg, nicht durch ihr Spiel.

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Foto: AP/Hassan Ammar

Wenn ich an das Frühjahr 1972 denke, dann lasse ich mich selbstverständlich davon betören, wieder mit den Augen eines 14-Jährigen zu sehen, den weder der Bundesligaskandal ein Jahr vorher noch die miserablen Zuschauerzahlen der Bundesliga von der festen Absicht abhielten, Begeisterung zuzulassen. Das habe ich mir unterdessen ein bisschen abgewöhnt. Deswegen: Zum 50-Jährigen hole ich die DVD doch mal wieder aus dem Schrank. Die andere Hälfte meiner Kernfamilie muss ja nicht dabei sein.

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