0:3-Niederlage in Österreich Als die DDR im Wende-Taumel die WM verspielte

Wien · Die Fußballauswahl der DDR gab im Wende-Taumel vor 25 Jahren ihr WM-Ticket noch aus der Hand, weil die Stars bereits mit West-Klubs flirteten.

Deutsche Nationalspieler aus der ehemaligen DDR
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Foto: dpa, hrad nic

Der einzige Telefonapparat in der Leipziger Sportschule stand nicht mehr still. Die jüngsten Entwicklungen im Land hatten für die Spieler der DDR-Auswahl höchste Priorität. Trainer Eduard Geyer war verzweifelt. Der Traum von der WM-Teilnahme in Italien drohte zu platzen. Ein Punkt am 15. November in Österreich hätte gereicht, doch in den Tagen des Mauerfalls waren Matthias Sammer und Co. mit ihren Gedanken ganz woanders.

"Es war eine schwierige Situation. Einige Spieler hatten schon Angebote aus dem Westen. Sie wollten natürlich in den Profifußball", sagte Geyer. Im Vorbereitungscamp herrschte Unsicherheit. Keiner wusste, wie es mit der DDR und mit dem Fußball weitergehen würde. Kommen Einheits-Liga und Westmark?

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Foto: dpa, jai

Dabei hatte Geyer großartige Vorarbeit geleistet. Seitdem der frühere Meisterspieler von Dynamo Dresden im September 1989 die Auswahl übernommen hatte, gab es in der WM-Qualifikation ein 3:0 in Island und ein 2:1 gegen die UdSSR — und dennoch platzte der Traum von der zweiten WM-Teilnahme nach 1974.

"Für einen Trainer, der unbedingt mal eine WM miterleben wollte, war es eine Katastrophe", meinte Geyer. Vor 55.000 Zuschauern ging sein Team in Wien mit 0:3 unter. Der spätere Bundesliga-Profi Toni Polster schoss alle drei Tore. "Seine individuelle Klasse hat das Spiel entschieden", sagte der Chemnitzer Mittelfeldspieler Rico Steinmann, der in der 31. Minute einen Elfmeter verschoss.

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"Wenn die Mauer ein paar Wochen später gefallen wäre, hätten wir das Spiel gewonnen", sagte Geyer. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm und seinem Team. Zudem hatte der einstige Klassenfeind längst seine Fühler ausgestreckt. Vor allem Bayer Leverkusens Manager Reiner Calmund war nicht zu stoppen. "Wir müssen uns um die Spieler kümmern", sagte "Calli" am Tag nach dem Mauerfall und schickte Mitarbeiter Wolfgang Karnath nach Wien: "Der sollte die Adressen der Spieler bringen."

Auf der Tribüne des Praterstadions tummelten sich Spielerberater und Manager anderer Klubs. Karnath wollte den Konkurrenten zuvorkommen und mogelte sich mit einem Sanitäter-Ausweis der Bundeswehr in den Innenraum. Dort saß er plötzlich auf der Spielerbank neben Matthias Sammer, als dieser ausgewechselt wurde. Der heutige Sportvorstand des FC Bayern unterschrieb später auch einen Vertrag beim Werksklub — doch Einheits-Kanzler Helmut Kohl schritt ein und verhinderte den Transfer. Alle DDR-Spieler zu Bayer, das würde nicht gehen.

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Foto: dpa, Witschel

Das rasche Handeln Calmunds machte sich aber im Fall von Andreas Thom bezahlt. Schon am Tag nach dem Österreich-Spiel sitzt der XXL-Manager bei den Thoms auf dem Sofa. "Bayer war sauschnell", erinnerte sich der damals kompletteste DDR-Spieler. Am 12. Dezember ist der erste Wechsel eines DDR-Spielers in die Bundesliga perfekt. Der 24 Jahre alte Thom darf für eine Ablösesumme von 2,8 Millionen DM "rübermachen".

Thoms Transfer war der Startschuss für den DDR-Schlussverkauf. In den nächsten Monaten folgten Ulf Kirsten (Leverkusen), Thomas Doll, Frank Rohde (beide Hamburger SV), Sammer (VfB Stuttgart) und viele andere. Die Zuschauerzahlen im Osten sanken um bis zu 50 Prozent. Am Ende blieb Geyer nur die ordnungsgemäße Abwicklung seiner Mannschaft. Zum letzten Auswahlspiel am 12. September 1990 in Brüssel lädt er 36 Spieler ein, 22 sagen ab. "Da hätte ich mir gewünscht, dass sich die Spieler etwas charakterfester verabschiedet hätte", sagte Geyer später. Kleiner Trost: Seine Elf gewinnt durch zwei Sammer-Tore gegen Gastgeber Belgien mit 2:0.

(sid)
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