Überraschungsspitzenreiter in England Das Märchen von Leicester City

Leicester · In der vergangenen Saison entging Leicester City dem Abstieg nur knapp. In diesem Jahr sind die "Foxes" die Überraschungsmannschaft in Europa. Mittendrin: Ein deutscher Abwehrspieler.

Shinji Okazaki trifft bei Leicester-Sieg per Fallrückzieher
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Shinji Okazaki trifft bei Leicester-Sieg per Fallrückzieher

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Versucht man in England vor der Saison einen Tipp abzugeben, wer am Ende der Spielzeit die Meisterschaft gewinnt, fallen einem normalerweise höchstens fünf Mannschaften ein, die eine realistische Chance haben: Manchester City, Manchester United, der FC Chelsea, der FC Arsenal und der FC Liverpool. John Pryke, Fan von Leicester City, dachte wohl an keine dieser fünf Mannschaften, als er vor der Saison rund 26 Euro darauf setzt, dass sein Verein am Ende an der Spitze steht.

130.000 Euro Gewinn waren für den Engländer möglich. Doch zu diesem Zeitpunkt hätte er nicht im Traum daran gedacht, wie realistisch dieses Szenario bald werden würde. Denn Leicester City grüßt tatsächlich von der Tabellenspitze und steht kurz davor, ein Fußball-Märchen zu schreiben.

Den größten Anteil an dieser Erfolgsgeschichte hat der Thailänder Vichai Srivaddhanaprabha, Milliardär und Gründer der "King Power International Group". Als der Mann mit dem unaussprechlichen Namen den Klub übernahm, dümpelte Leicester City hoch verschuldet im Niemandsland der Zweitklassigkeit umher. In einer seiner ersten Amtshandlungen beglich er die Schulden von umgerechnet 140 Millionen Euro, um den Verein zumindest finanziell wieder wettbewerbsfähig zu machen. Der sportliche Erfolg sollte auch nicht lange auf sich warten lassen und gipfelte 2014 im Aufstieg in Englands höchste Spielklasse. Daraufhin folgte prompt die Kampfansage an den Rest der Liga: Leicester wird sich in den nächsten Jahren unter den Top fünf der Liga etablieren. Damals wurde der Thailänder vom Rest der Liga für seine Aussagen belächelt.

Nachdem es lange Zeit so aussah, als steige man nach dem Aufstieg in die Premier League direkt wieder ab, gewannen die "Foxes" sieben der letzten acht Spiele und schafften am Ende der Spielzeit 2014/15 noch den Klassenerhalt. Mittlerweile besticht die Mannschaft aber nicht nur durch gute Ergebnisse, sondern auch durch eine für die Etablierten der Liga beängstigende Konstanz.

Mit verantwortlich für den rasanten Aufstieg von Leicester ist vor allem eine kluge, wenn auch risikoreiche Transferpolitik. Trainer Claudio Ranieri schaffte es, mit einfachsten Mitteln und "Schnäppchen"-Transfers eine Spitzenmannschaft zu formen. In Robert Huth (31) wurde ein erfahrener Innenverteidiger verpflichtet, der gerade seinen zweiten Frühling durchlebt. Huth, seit seinem 16. Lebensjahr in England aktiv, begann seine Karriere in der Jungend des FC Chelsea und debütierte in der Premier League, noch bevor der russische Oligarch Roman Abramowitsch in den Londoner Klub investierte. Dem Magazin "11Freunde" verriet Huth kürzlich: "Ich habe das Glück gehabt, dass ich noch eine Chance bekommen habe. Seitdem ist bei Chelsea kein Junger mehr durchgekommen." Im Februar 2015 landete er schließlich bei Leicester City. Obwohl Leicester bei Huths Ankunft auf dem letzten Tabellenplatz stand, erkannte er früh das große Potenzial der Mannschaft: "Ich fand damals, dass das eine richtig gute Mannschaft war. Ich wusste gar nicht, warum die unten standen." Für den momentanen Aufschwung seiner Mannschaft, sei seiner Meinung nach ein anderer Faktor verantwortlich: "Es hört sich seltsam an, stimmt aber: So einen guten Teamspirit habe ich noch nie erlebt."

Neben Huth verstärkte N'Golo Kanté, der für neun Millionen von SM Caen losgeeist wurde, die Mannschaft. Auch er spielt seit seiner Ankunft eine überragende Saison im Mittelfeld der Foxes. Teuerster Transfer, allerdings häufig nur Einwechselspieler, ist Shinji Okazaki. Ihn hatte man für satte elf Millionen von Mainz 05 geholt.

Doch die eigentlichen Hauptdarsteller dieses Märchens wurden schon vor der Saison verpflichtet. Riyad Mahrez, im Januar 2014 für 500.000 Euro aus der zweiten französischen Liga gekommen, steht aktuell mit 15 Toren und 10 Vorlagen auf Platz zwei der Scorerliste. Sein Marktwert heute: 20 Millionen Euro. Vor ihm in der Liste steht nur sein Mannschaftskollege: Jamie Vardy.

"The Cannon", wie er in England auch genannt wird, ging bis vor fünf Jahren noch in der fünften englischen Liga auf Torejagd, wechselte 2012 zum Drittligisten Fleetwood Down und wurde letztlich für 1,24 Millionen Euro zu Leicester gelockt. In seinen ersten Jahren bei den Foxes avancierte Vardy zwar auf Anhieb zum Leistungsträger, spielte jedoch lange Zeit unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit. Mit Trainer Ranieri scheint sich das nun zu ändern. Mit 19 Treffern und elf Vorlagen führt er die Scorerliste der Premier League an, schaffte den Sprung in die Nationalmannschaft und stellte zudem noch einen Rekord auf. Als erster Spieler der Premier League-Geschichte erzielte er in elf aufeinanderfolgenden Spielen ein Tor.

Obwohl seine Leistungen bereits Top-Klubs wie Liverpool und Tottenham auf den Plan rufen, verlängerte der 29-Jährige seinen Vertrag vorzeitig bis 2019. "Leicester City hat von Beginn an totales Vertrauen in mich gezeigt und es ist unmöglich zu ermessen, wie sehr dieser Glaube mir geholfen hat, mich zu verbessern", kommentierte der Stürmer. Auch sein Trainer Claudio Ranieri zeigt sich begeistert: "Jamie hat gezeigt, was für ein herausragender Spieler er ist, und viel wichtiger, er ist Teil einer fantastischen Truppe. Ich bin wirklich froh, dass er so lange bei uns bleiben wird."

Auch die Geschichte von Vardy ist ein Fußball-Märchen. Der Mann arbeitete sich ohne den geraden Weg über Elite-Akademien aus der Unterklassigkeit an die Spitze von Englands Torjägerliste. Sieben Spiele bleiben Huth, Vardy & Co. noch, um ihren fünf Punkte-Vorsprung zu verteidigen und sich unsterblich zu machen. Auch Ranieri bricht nun erstmals die Gesetze der Branche und schielt mit einem Auge auf die mögliche Sensation: "Unsere Fans träumen, und wir wollen, dass sie weiter träumen. Sie müssen träumen, wir müssen arbeiten."

John Pryke hat mittlerweile den Glauben in seine Mannschaft verloren und den Wettschein vorzeitig verkauft. Was ihm aber immer noch satte 37.000 Euro einbrachte.

(RP)
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