Exklusiv-Interview mit Günter Netzer Günter Netzer: Klinsmann muss sich für die Bayern ändern

Düsseldorf (RP). Der Mönchengladbacher Günter Netzer war einer der besten Mittelfeldspieler, den es in Deutschland gab. Zum nahenden Ende der Bundesligasaison sprach er mit unserer Redaktion über seinen Job als Kommentator, den Trainerwechsel beim FC Bayern München und den Fußball von heute.

Das ist Günter Netzer
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Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Viele bekommen in Erinnerung an die EM 1972 ein Glänzen in den Augen. Denken Sie schon mal an 1972?

Netzer Eigentlich nicht. Wissen Sie, ich bin kein Mensch, der sehr stark in der Vergangenheit lebt. Das betrifft nicht nur die EM, sondern mich im Allgemeinen. Wenn ich darauf angesprochen werde, dann beschäftige ich mich damit und freue mich, weil ich merke, dass die Menschen schöne Erinnerungen daran haben.

Wo liegen die größten Unterschiede zum Fußball von heute?

Netzer Der Fußball hat sich grundlegend verändert, was den Kommerz betrifft. Er ist auf allen Gebieten viel professioneller geworden. Er hat eine Wende erfahren, die nicht nur gut ist. Es sind viele neue Medien entstanden, und der Fußball wird ganz anders präsentiert. Anders als zu unserer Zeit. Davon hat er natürlich profitiert.

Heute wird viel über die 68er diskutiert, 40 Jahre her. Viele haben Ihren Fußballstil für revolutionär gehalten. Sind Sie ein Fußball-68er?

Netzer An uns ist das damals gar nicht so herangekommen, wir haben gar nicht gemerkt, dass wir in die Nähe solcher politischen Richtungen gerückt wurden. Die Nähe war nicht vorhanden. Ich bin heute noch kein politischer Mensch. Und es hat mich schon damals amüsiert, was in mich als Figur so hineininterpretiert wurde, dass an der Art Fußball zu spielen eine politische Richtung zu erkennen war.

Sie wurden die erste Fußball-Figur für die Kulturteile der Zeitungen.

Netzer Dazu haben die Künstler beigetragen. Die haben das mit ihren Augen gesehen. Sie haben Verbindungen hergestellt, da habe ich sehr genau zugehört. Aber ich war völlig unbedarft. Damals habe ich mich nur für Fußball interessiert und mich nicht für so einen Prototypen gehalten. Das Feuilleton hatte für uns nicht diese Bedeutung. Für mich war es wichtiger, auf den Sportseiten vertreten zu sein. Nach der Karriere hat sich das Interesse für den Kulturteil verstärkt, auch weil sich das Interesse der Nichtsportler am Fußball sich verstärkte. Es hat mich sehr fasziniert, wie das da gesehen wurde. Und ich habe viele Gemeinsamkeiten festgestellt.

Gab es in Ihrer Zeit bei Real Madrid einen anderen Zugang der Öffentlichkeit zum Fußball?

Netzer Bei Real war alles viel professioneller, viel größer. Da herrschte ein anderes Flair, vor allem, wenn man wie ich aus Mönchengladbach nach Madrid kam.

Sie sind in dieser kleinen Großstadt aufgewachsen. Was bedeutet Ihnen der Begriff Heimat?

Netzer Das ist hochinteressant. Die Frage habe ich lange nicht beantworten können. Seit ich so weit weg bin von Mönchengladbach und durch die Welt gezogen bin, weiß ich, dass das Gefühl stärker geworden ist. Ich komme heute lieber zurück nach Mönchengladbach als früher. Abstand hat geholfen. Da kommen Erinnerungen hoch, wenn ich durch die Straßen fahre, gibt es Verbindungen, auch wenn ich kaum noch jemanden kenne in der Stadt. Da habe ich festgestellt: Ich bin ein Mensch, der nicht ruhe- und rastlos durch die Welt rennt, ich habe meine Wurzeln.

Wenn Sie mal nicht zu Gast sind, gewinnt die Borussia meistens. Deshalb liegt sie auf Aufstiegskurs. Wie sehen Sie die Perspektive der Mannschaft?

Netzer Im Borussia-Park gelte ich schon als Seuchenvogel. Da gibt‘s bestimmt bald Stadionverbot. Die Mannschaft habe ich am Anfang der Saison beim Spiel in Mainz gesehen und muss sagen: Es war furchtbar. Da habe ich das Schlimmste befürchtet. Das ist nicht eingetreten. Inzwischen merkt man den Einfluss des Trainers, der solide und seriös mit Qualität arbeitet. Es wäre mein Schönstes, wenn sie aufsteigen würden. Das ist ein notwendiger Schritt, allzu lange kann man nicht in der Zweiten Liga bleiben.

Sind daran ernsthafte Zweifel erlaubt?

Netzer Eigentlich bin ich optimistisch, denn die Borussia hat sich stabilisiert. Natürlich muss es aber auch der Anspruch des Vereins sein, in der Bundesliga zu spielen.

Werden Sie gelegentlich um Rat im Profi-Fußball gebeten? Hat es mal den Ansatz zur Rückkehr gegeben?

Netzer Nein. Es gab zwar Anfragen, übrigens nicht von der Borussia, aber ich habe nach meiner Zeit beim Hamburger SV definitiv einen Schlussstrich gezogen. Ich habe gesagt, dass man mich nicht mehr im Fußball sehen wird. Da ist man mir gefolgt. Da hab ich etwas Gutes gemacht, es war die richtige Entscheidung. Der Fußball hatte alle meine Energien aufgesaugt.

Sie waren Profi, frühzeitig Geschäftsmann in eigener Sache, Klub-Manager, sind in der Rechteverwertung tätig, als Kolumnist und Experte im Fernsehen. Welcher Netzer ist Ihnen selbst am liebsten?

Netzer Was immer ich gemacht habe: Ich habe alles mit voller Kraft getan, das war in jedem Bereich notwendig. Ich habe allerdings auch immer gewusst, meine Chance zu nutzen, auf der anderen Seite aber auch nie den Boden unter den Füßen verloren. Die Basis des Fußballs habe ich nie verlassen. Ich bin nie übergeschnappt und habe immer gewusst, wo ich hingehöre. Vielleicht habe ich mich dabei eher unter- als überschätzt und nur Dinge gemacht, von denen ich glaube, dass ich sie beherrsche. Ich mache nur Dinge, von denen ich überzeugt bin und die zu mir passen.

Wie Ihren Job im Fernsehen als Kritiker der Nationalmannschaft.

Netzer Die Leute sagen noch immer: Das ist wunderbar. Aber ich überprüfe stetig, ob ich damit noch ankomme.

Wie?

Netzer Ich brauche die Akzeptanz der Menschen auf der Straße. Ich höre auf die Frauen, die sind für mich wie ein Sensor, da krieg ich ein Gefühl für meine Tätigkeit. Sie sind keine derartigen Fußballkenner wie die Männer. Sie sprechen über den Fußball aus ihrem fraulichen Instinkt. Das fasziniert mich, weil es oft besser ist als jede Analyse. Ach ja: Taxifahrer sind ganz wichtig. Auch da überprüfe ich meine Arbeit.

Viele Gefühlsfaktoren für einen so analytischen Menschen.

Netzer Ich verstehe mich so: Das Analytische ist mein Naturell. Ich habe mein ganzes Leben so gesprochen. Vielleicht ist das rhetorisch ein bisschen besser geworden.

Wie wichtig ist dabei Ihr Partner Delling?

Netzer Ich glaube, dass ich sehr gut Chancen erkenne. Und bei Delling wusste ich von Anfang an nach einem 45-minütigen Gespräch: Das ist der Richtige, der verfälscht sich nicht, der bleibt immer ein erstklassiger Journalist, der passt zu meiner Art.

Sie leben seit 21 Jahren in der Schweiz, seit 16 Jahren in Zürich. Was schätzen Sie besonders an der Stadt?

Netzer Zum Ersten: Es ist eine wunderschöne Stadt mit internationalem Flair, aber trotzdem überschaubar. Sie ist mein Ausgangspunkt für alle meine Tätigkeiten, ich bin überall sehr schnell. Zum Zweiten sind da die Schweizer, die zwar nicht einfach sind, die aber Prominenten eine gewisse Anonymität gewähren. Das schätze ich sehr. Andere auch. Hier leben ja noch viel bekanntere Leute, Tina Turner zum Beispiel. Die kann hier zum Markt gehen und einkaufen und niemand behelligt sie.

Ihre Nachfolger auf dem Fußballplatz erleben das in den meisten Ländern anders. Würden Sie manchmal lieber heute Fußballer sein?

Netzer Was uns die Menschen oft nicht glauben: Wir alten Fußballer würden nicht gern in der heutigen Zeit spielen ­ das Geld hätten wir schon gern verdient. Aber heute ist alles transparent, jeder steht immer auf dem Präsentierteller. Die haben kein eigenes Leben. Das ist der Preis für das viele Geld. Wir konnten uns damals noch ausleben. Heute undenkbar. Wir hatten die schönste Zeit.

Sie haben zum Ende Ihrer Karriere bei den Grasshoppers gespielt. Wie hat sich der Fußball in Ihrer Wahlheimat verändert?

Netzer Er hat sich sehr entwickelt. Was ich am Anfang hier bemängelt habe: Früher waren die Schweizer zu selbstzufrieden, zu satt, die haben nicht diese Besessenheit gehabt. Das hat sich verbessert. Man sieht das an den Spielern, die überall in der Welt unterwegs sind. Das basiert auf einer erstklassigen Jugendarbeit. Aber es liegt auch an zugewanderten Menschen aus vielen Nationen, die als Schweizer in der zweiten oder dritten Generation hier leben, die sie hier "Secundos” nennen. Sie haben eine Lebhaftigkeit in den Fußball gebracht, von der das Schweizer Team profitiert.

Was erwarten Sie von den Schweizern im Turnier? Sie selbst haben als Ziel den Titel ausgegeben.

Netzer Sie sehen sich ein wenig besser, als sie sind. Es wäre schon ein großer Erfolg, die Gruppe zu überstehen. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man in einer Gruppe mit Tschechien, Portugal und der Türkei spielt. Da ist die deutsche Gruppe mit Polen, Österreich und Kroatien leichter. Das wird in der Schweiz unterschätzt.

Und der andere Gastgeber, Österreich?

Netzer Die Österreicher haben uns in den Testspielen gegen Deutschland und Holland alle überrascht. Vielleicht sind sie doch nicht so schlecht wie im Sommer. Das war nicht anzusehen. Da habe ich ein Spiel gesehen, in dem sie in 90 Minuten nicht einmal aufs Tor geschossen haben. Das habe ich selten auf dem Fußballplatz gesehen. Das war gegen Deutschland und Holland schon viel besser. Trotzdem werden sie nicht weiterkommen. Aber da sind die Erwartungen nicht so hoch wie hier in der Schweiz.

Was erwarten Sie überhaupt vom Turnier?

Netzer Mit Ausnahme von Brasilien und Argentinien und vielleicht England, das ich nicht so positiv sehe, ist das Beste im Weltfußball vertreten. Vom Niveau her muss es eine wunderbare EM werden. Es gibt kleine, sehr gemütliche Stadien, die Wege sind kurz, es ist gut vorbereitet.

Wird es noch einmal wie vor zwei Jahren in Deutschland?

Netzer Das wird es nie mehr wieder geben. Nirgendwo. Was wir Deutschen da auf die Beine gestellt haben, ist einzigartig.

Sie begleiten die deutsche Mannschaft. Wo steht die vor der EM?

Netzer Wir haben uns gesteigert seit der Weltmeisterschaft. Wir haben eine breitere Basis, die Mannschaft ist qualitativ verbessert und gefestigt. Für die Trainer gibt es mehr Möglichkeiten. Die deutsche Mannschaft ist gut.

Sicher ein Kompliment für Bundestrainer Löw.

Netzer Natürlich, das alles liegt an Löw. Er hatte schon als Assistent maßgeblichen Anteil daran, dass die WM ein Erfolg wurde. Man sieht, was er da bewirkt hat. Er hat die Spieler nun weiterentwickelt.

Die logische Fortsetzung zu Jürgen Klinsmann, den Sie nie so ganz unkritisch gesehen haben.

Netzer Absolut. Klinsmann hat die Arbeit mit der Nationalmannschaft projektmäßig betrieben, was ich eigentlich ablehne. Fußball kann kein Projekt sein, er hat zuviel mit Emotionen zu tun, da ist es gefährlich, zu technokratisch heranzugehen. Aber er hat den großen Vorteil, das Turnier im eigenen Land zu spielen, diesen Bonus genutzt. Natürlich hatte er auch die Verpflichtung, diesen Bonus zu nutzen. Er hat das Projekt auf den Höhepunkt gebracht. Das weiter zu bearbeiten, geht nicht gut. Das hat Klinsmann richtig erkannt und ist abgetreten.

Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte er die Möglichkeit, beinahe alle Rahmenbedingungen selbst zu diktieren.

Netzer Sein Projekt hat funktioniert, weil ihm alles in die Karten gespielt hat. Er konnte seine Leute mitbringen, die Strukturen beim DFB anpassen. Das Publikum ist ihm gefolgt, die Stimmung war perfekt.

Nun hat er das nächste Projekt vor sich. Er wird Trainer beim FC Bayern München. Kann er das?

Netzer Das wird hochinteressant. Das ist eine völlig andere Welt, die Vereinswelt, völlig andere Ansprüche an ihn. Es ist ein anderes Verhalten notwendig, schon bei der täglichen Arbeit mit den Medien in einem Umfeld, in dem schon ein Unentschieden eine Katastrophe sein kann. Hitzfeld wird ihm schon die notwendigen Vorlagen geben und Titel hinterlassen. Da sind schon mal die Ziele hochgesteckt. Es ist gut, wenn man als Trainer Konsequenz zeigt, aber es gibt auch notwendige Kompromisse. Dazu muss er bereit sein. Der FC Bayern mit seiner profilierten Führung, die auch eine eigene Meinung hat, ist kein Verein aus dem Niemandsland. Da darf man nicht alles umwälzen wollen. Klinsmann muss da ganz klug agieren - und das muss man ihm eigentlich zutrauen.

Die Bayern haben nach der für sie schrecklichen Vorsaison viel investiert. Reicht das, um dauerhaft die Lücke zu den Topteams in Europa zu schließen?

Netzer Die Frage kann man zu diesem Zeitpunkt sicher nicht beantworten. Wenn wir voraussetzen, dass sie behalten, was sie haben, müssen sie noch gewisse Anpassungen vornehmen, wenn sie die absolute Spitze in Europa erreichen wollen. Vielleicht war es gut, in dieser Saison Uefa-Cup zu spielen, damit sie sich mal hineinbewegen.

Der Anspruch muss aber doch sein, eine führende Rolle in Europa zu spielen.

Netzer Das muss so sein, nachdem sie so investiert haben. Auch wenn selbst der FC Bayern einen solchen finanziellen Kraftakt wie im vergangenen Sommer nicht wiederholen kann.

Die Bundesliga hat Topstadien, eine herausragende Auslastung und wirtschaftlichen Erfolg. Was fehlt an den europäischen Topligen in England und Spanien?

Netzer Eigentlich nur das Geld. Wir haben die besten Stadien der Welt, eine Vermarktung, die eigentlich stimmt. Aber die Beträge, die hier erlöst werden, sind zu gering. Eine Fernsehlandschaft, die nicht zu vergleichen ist mit dem Ausland. Die haben ein Umfeld, Spieler finanzieren zu können, die einen weiterbringen. In England ist es fast dreimal so viel wie in der Bundesliga. Die Engländer können jedes Jahr so etwas machen wie der FC Bayern vergangenen Sommer. Das kann er nicht jedes Jahr machen. Der Wenger bei Arsenal, der hat wieder zig Millionen, die gibt er nicht mal aus.

Das heißt: Deutsche Fernsehkunden müssten bereit sein, viel mehr Geld für Pay-TV auszugeben. Die deutsche Fußball-TV-Kultur müsste sich komplett ändern. Glauben Sie daran?

Netzer Ich bezweifle es. Es gibt zwar eine Steigerung der Bezüge, aber es gibt nicht diesen notwendigen Quantensprung. Wahrscheinlich ist die Lösung: Aus dem Vorhandenen das Beste zu machen und zu versuchen, in diese Phalanx einzubrechen.

Die Fans in den Stadien scheinen mit dem zufrieden, was ihnen angeboten wird. Der Unterhaltungswert der Bundesliga stimmt also.

Netzer Sehen Sie, da habe ich nach der WM größere Sorge angemeldet. Da war so viel Freude, dass ich befürchtet habe, dass man dahin abdriftet: Das Spiel war nicht besonders, aber wir hatten Riesenspaß. Das Essen war gut, das Stadion schön. Auch die Spieler hatten Spaß, nur gewonnen haben sie nicht. Mein wichtigstes Motiv, ins Stadion zu gehen, ist die Qualität des Fußballs auf dem Platz. Ich kann keinen Spieler ertragen, der sagt: Wir haben verloren, aber ich habe meinen Spaß gehabt. Die Tendenz habe ich befürchtet, und bei einigen Spielern habe ich sie erkannt. Sie merken: Es schadet meiner Popularität nicht, wenn ich schlecht spiele. Ich habe trotzdem meinen Spaß, ich kann weiter davon leben, ich habe keinen Verlust erlitten. Solchen Geist darf ich nicht zulassen.

So mancher scheint es zu begreifen. Lukas Podolski meldet sich neuerdings mit Nachdruck zu Wort.

Netzer Es ist positiv, dass er den Kampf angegangen ist. Es muss für jeden deutschen Spieler Anreiz sein, sich beim besten deutschen Verein durchzusetzen. Er hat zu große Qualität, als dass er dauerhaft auf der Bank sitzen darf.

Aber er kommt an Klose nicht vorbei?

Netzer Klose hat den Vorteil, ein etablierter Spieler zu sein. Das ist ein Bonus. Der hält aber nicht für immer, wenn er so weiterspielt. Vielleicht sollte er ein bisschen eigensinniger sein. Es gibt wahrscheinlich keinen Stürmer auf der Welt, der statt des Tores immer den Nebenspieler sieht. Der Klose ist ein sehr anständiger Junge. Ein Torjäger muss manchmal aber auch ein Schweinehund sein.

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