Bilanz des DFB-Teams 2019 „Würde eine Zwei oder Drei geben“
Frankfurt · Deutschland beendet das Länderspieljahr 2019 mit einem 6:1-Kantersieg gegen Nordirland. Die junge deutsche Nationalmannschaft fährt damit als Gruppensieger zur EM. Eine Bilanz.
20.11.2019
, 09:44 Uhr
Natürlich gab es noch eine kleine Ehrenrunde. Vom Rasen des Frankfurter Stadions wurde freundlich ins Publikum gewinkt, von den Rängen winkten die Fans nach dem 6:1 gegen Nordirland ebenso freundlich zurück. Beide Seiten hatten nach einem erfreulichen Spiel und Platz eins zum Abschluss der Gruppenspiele in der EM-Qualifikation allen Grund dazu. Und dann war das Länderspieljahr 2019 für die deutsche Nationalmannschaft vorbei. Das erste Jahr des Umbruchs nach dem Absturz bei der WM 2018. Eine Bilanz.
- Das erste Spiel. Es begann mit einem 1:1 im Testspiel gegen Serbien Ende März. Die Begegnung nahm vorweg, was zum Kennzeichen des Jahres werden sollte: die Unbeständigkeit. Gegen die Serben kam Deutschland erst in der zweiten Hälfte ins Spiel. Das sollte gegen die besseren Gegner so bleiben, nur zum guten Ende gegen Nordirland blieb das Team im ganzen Spiel auf dem Gaspedal. Bundestrainer Joachim Löw führt es auf den Mangel an Erfahrung zurück. "Man kann von der jungen Mannschaft noch nicht verlangen, dass sie zwei Halbzeiten auf dem gleichen hohen Niveau spielt." Dieser Satz gehört zu Löws Standard-Repertoire.
- Das letzte Spiel. Gegen die Nordiren ging es nur noch um Platz eins in der Tabelle, die Qualifikation für die EM, die nächstes Jahr zur Feier des 60. Bestehens der Veranstaltung auf dem gesamten Kontinent gespielt wird, war bereits durch das 4:0 gegen Weißrussland am Samstag in Mönchengladbach gelungen. Löws Mannschaft verwöhnte ihr Publikum beim 6:1 noch einmal. Sie bot Spielfreude, Engagement bis zum Abpfiff und nett herauskombinierte Tore.
- Höhepunkt und Tiefpunkt. Die DFB-Auswahl hatte genau einen ernstzunehmenden Gegner in der Qualifikation, das Team der wiedererstarkten Niederlande. Vier Tage nach dem 1:1 gegen Serbien gewann Löws Mannschaft selbst für ihn überraschend mit 3:2 in Amsterdam. Vor der Pause überrannten die deutschen Sprinter die hochkarätig besetzte Defensive der Holländer, nach dem Wechsel verspielte Deutschland eine 2:0-Führung. Dass die Gäste noch gewannen, war dem Glück und einem späten Tor von Nico Schulz zu verdanken. Von Souveränität war nichts mehr zu sehen. Das Rückspiel wurde zu einer kleinen Vorführung. Löws Elf ging in Hamburg zwar in Führung, aber sie fand gegen den fußballerisch überlegenen Gegner nie zur Sicherheit. In der Verteidigung fielen die Deutschen von einer Verlegenheit in die andere, Holland drückte seine Überlegenheit beim 4:2 noch gnädig aus.
- Das Abwehrspiel. Löw hat in einer auch im Rückblick bemerkenswert kurzen Reise nach München seine Weltmeister-Innenverteidigung Jerome Boateng/Mats Hummels entsorgt. Nach Hummels rufen immer noch viele, die teilweise bedenkliche Abwehrleistungen in Qualifikation und Testspielen erlebten. Selbst allenfalls zweitklassige Gegner offenbarten die Schwächen der deutschen Defensiv-Akteure und deren Probleme in einem geordneten Aufbau. Weil niemand weiß, ob Niklas Süle bis zur EM rechtzeitig von seinem Kreuzbandriss genesen sein wird, ist Hummels immer noch eine Option - obwohl sich in Abwesenheit der meisten Stammspieler zum Beispiel der Mönchengladbacher Matthias Ginter zuletzt in den Vordergrund gespielt hat. Innen und außen fehlen trotzdem Spieler mit international herausragender Klasse.
- Das Mittelfeld. Schon jetzt ist die Zentrale herausragend besetzt. Toni Kroos, Joshua Kimmich und Ilkay Gündogan bestimmten in den beiden letzten EM-Qualifikationsspielen den Rhythmus, sie führten das Team. In diesem Bereich hat Löw kein Problem.
- Der Angriff. Auch ohne den ebenfalls von einem Kreuzbandriss in den Krankenstand beförderten Leroy Sané bietet die DFB-Auswahl überdurchschnittliche Angriffsspieler an. Der formbeständigste ist sicher Serge Gnabry, dem Löw entgegen alter Gewohnheit eine Stammplatz-Garantie ausgesprochen hat. Gnabry bedankt sich dafür mit einer Trefferquote wie der legendäre Gerd Müller. Verlierer vor allem des zweiten Halbjahres ist Marco Reus, der nach einer anfangs ganz großen Saison im Verein bei Borussia Dortmund wieder von seiner Verletzungsanfälligkeit zurückgeworfen wird. Wenn es bei all den feingeistigen Rennern in der Offensive ein Problem gibt, dann besteht es im Mangel an Körperlichkeit. Die Gattung der klassischen, wuchtigen Mittelstürmer hat sich die Nachwuchsarbeit weggezüchtet, im Zentrum (manchmal nicht nur dort) fehlt es an Robustheit.
- Die Routiniers. "Auf die richtige Mischung kommt es an." Auch das ist ein Satz, der zu Löws Standard-Sprachschatz gehört. Von hemmungsloser Verjüngung hält er nichts. Seine Verbindung in eine positive Vergangenheit sind Torwart Manuel Neuer, die Mittelfeldspieler Gündogan und Kroos sowie Stürmer Reus, wenn der denn mal gesund ist. Kimmich ist zwar erst 24, aber routiniert wie ein 30-Jähriger - auch in seinen Redebeiträgen.
- Löws Leistung. Der Beitrag des Bundestrainers ist noch nicht so richtig abzuschätzen. Trotz der verkorksten WM, zu der er entscheidende Beiträge geleistet hatte, setzte ihn das DFB-Präsidium schnell (zu schnell?) wieder an die Spitze eines notwendigen Umbaus. Bislang konnte Löw den Neuanfang lediglich moderieren, viele Verletzungen machten es schwer, eine Kernmannschaft zu finden. Natürlich hat er das bei jeder Gelegenheit betont. Zum wiederholten Mal in seiner DFB-Geschichte hat er das Glück, aus einem erstaunlichen Angebot von Klassespielern zu schöpfen. Dafür kann er nichts, so wenig wie für die Verletzungsmisere, die das Team ereilt hat. Mit beiden Phänomenen muss er nur richtig umgehen. Ob ihm das wirklich gelingt, zeigt das Frühjahr.
- Die Qualifikation. Es war erwartungsgemäß kein Problem, sich in der Gruppe mit Holland, Nordirland, Weißrussland und Estland durchzusetzen. Löws Elf hat ihre Pflicht erfüllt. Gegen die Kleinen ging es die Spiele mit der notwendigen Seriosität an, gegen die Niederländer war ein bisschen Lehrgeld fällig. "Insgesamt sind wir noch nicht da, wo wir hinwollen", räumt Mittelfeldspieler Leon Goretzka ein. Das ist ebenso richtig wie die Bemerkung des Kollegen Kroos, der feststellt: "Wie weit wir sind, werden wir erst kurz vor dem Turnier 2020 sehen." Und von Kroos stammt auch die passende Bewertung zum Länderspieljahr 2019: "Ich würde am Ende des Jahres eine Zwei oder Drei geben, weil die Qualifikation an sich jetzt auch nichts Großes ist." Kein Einspruch.